Karl Kopp warnte schon vor den aktuellen Fluchtbewegungen, als der Krieg in Syrien für die hiesige Politik noch ein weit entferntes Geschehen war. Im Zuge der Entwicklungspolitischen Hochschulwochen von Südwind war der Deutsche vergangene Woche in Salzburg. Im Interview mit SALZBURG24 erklärte er, was Grenzzäune bewirken würden, warum unsere Politik darüber entscheidet, ob Flüchtlinge tot oder lebendig ankommen und warum Salzburg in der Flüchtlingskrise ein europäisches Vorbild ist.
SALZBURG24: Sie haben in Salzburg über das Thema „Die Flüchtlingsfrage und Europas fehlende Antwort“ gesprochen. Ich würde von Ihnen gerne wissen: Wie sieht diese fehlende Antwort aus.
Karl Kopp (KK): Es gibt momentan – und das ist erschütternd – überhaupt keine Gemeinsamkeit in der Flüchtlingsaufnahme, es gibt keine Solidarität untereinander. Es gibt ständig Sondergipfel mit vielen Papierergebnissen. Aber es gibt in der Realität kaum Ergebnisse.
SALZBURG24: Im Bezug auf Grenzsicherung oder kontrollierter Durchlass: Wie sehen naheliegende Maßnahmen aus, die Europa jetzt durchführen könnte.
KK: Wir haben eine Pseudo-Registrierung in jedem Transitland. Von Griechenland bis Österreich und Deutschland. Alle tun so, als würden sie irgendwas machen, aber es ist de facto nicht einmal eine ordentliche, einheitliche Registrierung. Das ist dumm, man arbeitet nicht zusammen. So haben wir jeden Tag eine humanitäre Krise. Und alle denken sich, wow, das sind ja ganz schön viele. Wir sehen die gleichen Leute ja an fünf verschiedenen Stellen, und dann denkt man, das sind immer neue Krisen. Aber das ist die gleiche Krise, die von der Türkei sich bis nach Salzburg zieht.
"Diese Menschen haben auch mal Party gemacht"
SALZBURG24: Eine Frage, die von unseren Usern oft gestellt wird, ist, warum die Leute aus Syrien, aus Afghanistan, etc. nach Europa fliehen und nicht in ihren Herkunftsregionen bleiben, die ihnen kulturell wahrscheinlich näher stehen.
KK: Die User würden sich wundern, wenn sie zum Beispiel syrische junge Menschen aus Damaskus und Aleppo kennen lernen würden. Das ist eine Gruppe, die zum Teil die gleiche Musik hört, die gleichen Klamotten trägt, die eine sehr westliche Ausrichtung hat. Diese Leute haben auch gern mal eine Party gemacht. Da sind ganz viele hippe, dynamische Leute dabei.
Bei Afghanistan ist es ein langjähriger Krieg, 30 Jahre de facto (mit dem Krieg zwischen der ehemaligen Sowjetunion, Anm.). Schon seit vielen Jahren stellen sie die größte Flüchtlingspopulation außerhalb des Landes. Das ist eine andere Situation. Deswegen kommen da auch ärmere Menschen. Jugendliche, die Bildung suchen, aber noch nie Bildung erfahren haben. Die werden oft als Flüchtlinge zweiter Klasse verkauft, sie sind aus unserer Sicht aber sehr schutzbedürftig.
„Wir entscheiden: Tot oder lebendig“
SALZBURG24: Eine populäre Maßnahme für Migrationskritiker sind Zäune, um Migrationsströme abzuhalten. Was würde ein Zaun bewirken?
KK: Es ist noch gar nicht so lange her, das war 1989, dass Europa gesagt hat: Nie wieder Zaun, nie wieder Mauer. Ein Zaun als Architektur der Abwehr hält kurzfristig Menschen ab, produziert manchmal auch Tote oder Verletzte, wird aber im Kern die Fluchtbewegung nicht abhalten.
Es macht mehr Sinn, den Prozess zu organisieren und damit auch menschlich zu gestalten. Das mag für viele blauäugig klingen. Vereinfacht gesagt: Wir entscheiden nur noch über den Aggregatzustand, wie die Leute ankommen: Tot oder lebendig.
Salzburg als strahlendes Vorbild für Europa
SALZBURG24: Wie sehen Sie die Rolle Österreichs und Salzburgs bisher in diesem Migrations- und Fluchtprozess?
KK: Österreich und Deutschland spielen in der europäischen Perspektive eine positive Rolle. Wenn alle Staaten so agieren würden, wären wir weiter, viel weiter. Merkel und Faymann zeigen als Politiker, dass sie Verantwortung übernehmen wollen. Viele andere, etwa Cameron (Premier Großbritanniens, Anm.), tun das nicht.
Es war außerdem ein riesiger europäischer Beitrag, den die Zivilgesellschaft in Deutschland und Österreich gerissen hat. Dass in Österreich und Deutschland dann so eine Willkommensparty war, das hat in Europa viele Leute inspiriert, noch stärker für das Thema einzutreten. Da ist von Salzburg, Wien und München aus eine Ausstrahlung in andere Regionen Europas gegangen, dass man gesagt hat, wenn die das hinbringen, wir wollen das auch schaffen.
"Fast alle Frauen liefen durch Vergewaltigungen"
SALZBURG24: Mittlerweile sind tausende Flüchtlinge angekommen. Welche Probleme und welche Handlungsoptionen sehen Sie für Österreich und andere Aufnahmeländer?
KK: Wir müssen das alle sehr ernst nehmen. Mein Plädoyer ist: Man muss frühzeitig den Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und zur medizinischen Versorgung sicherstellen, damit die Leute schnell ankommen. Das kostet auch Geld.
Das erste Jahr ist zentral bei der Aufnahme. Wenn ich sie im ersten Jahr mitnehme und auch die seelischen Verletzungen zumindest ansatzweise ernst nehme, dann kann ich sie zur Gänze ins Leben zurückholen. Wenn ich das über Jahre hinweg konserviere, verfestige ich diese Prozesse in ihnen. Das ist ein Riesenproblem, das völlig unterschätzt wird. Fast alle Frauen, die über Lybien gekommen sind, liefen durch Vergewaltigungen oder Folter. Jungs auch. Die Probleme dieser Erlebnisse muss ich angehen. Das in großen Lagern zu konservieren, das ist nicht gut.
Wie Europa Fluchtbewegungen mitverursacht
SALZBURG24: Sprechen wir abschließend über das Bekämpfen von Fluchtursachen. Wo sehen sie Möglichkeiten, das zu bekämpfen oder zumindest abzudämpfen?
KK: Alles was mit Militärpolitik zu tun hat, da kann man aus den fatalen Fehlern der Vergangenheit sicher Lehren ziehen. Auch wenn nicht die EU, sondern die Koalition der Willingen, also ein Teil der EU, 2003 im Irak eingefallen ist. Dazu muss man eine klügere Politik verfolgen, man muss früher verhandeln. Auch Syrien hat man viel zu lange alleine eskalieren lassen. Die Kriege waren die verheerendsten Auswirkungen. Die Kriegsländer machen weit über 50 Prozent der Flüchtlinge aus.
Auch im Agrar- und Fischereibereich und in den Handelsbeziehungen ist die EU kein Hort der Menschenrechte oder der nachhaltigen Entwicklung anderer Regionen – auch wenn das in jedem Papier steht.
Da hat man den Eindruck, dass die EU auch noch nicht ihre Verursacherrolle wahrnimmt, was sie mit ihrer Ökonomie, mit ihrer Agrarpolitik in Teilen Afrikas zerstört. Durch die Exporte dorthin, durch den Zwang, dass diese kleinen Staaten ihre Märkte öffnen sollen, obwohl sie überhaupt nicht konkurrenzfähig sind. Also es gibt viele Aspekte, wo wir Verbesserungen einleiten könnten.
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