Zeitgleich mit dem Ringen um einen Friedensdeal im Ukraine-Krieg diskutiert Europa über nukleare Abschreckung. Im Zentrum steht, ob Frankreich und Großbritannien die atomare Verteidigung Europas übernehmen könnten - ergänzend zum US-Atomschirm, oder in dem Fall, wenn Washington diesen Schutz in der NATO nicht mehr gewähren sollte. Schwung bekommen hat die Debatte auch nach Äußerungen des wohl künftigen deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz.
Macron hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Gespräche zur europäischen Dimension der französischen Atom-Abschreckung angeboten. Denn der Großteil der europäischen NATO-Länder, wie auch Deutschland, verfügen über keine eigenen Atombomben und verlassen sich auf die Abschreckung durch die USA. Das heißt, die USA gewähren einigen NATO-Partnern als Teil der sogenannten nuklearen Teilhabe im Kriegsfall Zugriff auf Atombomben. Während in Frankreich die Entscheidung über die französischen Atomwaffen alleinig in den Händen des Landes und seines Staatschefs liegt.
Frankreichs Rolle
Frankreich verfügt laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) über etwa 290 nukleare Sprengköpfe. Damit ist es - nach den USA, Russland und China - die viertgrößte Atommacht der Welt. Das französische Arsenal gilt unter Fachleuten als glaubwürdig genug, um etwa Russland abzuschrecken. Frankreich setzt auf eine Kombination aus seegestützter und luftgestützter Abschreckung: vier Atom-U-Boote mit Interkontinentalraketen und Rafale-Kampfjets, die Marschflugkörper mit Nuklearsprengköpfen tragen können.
Europäische Partner könnten laut Macron an den Übungen der französischen Atomtruppen beteiligt werden. Aus französischer Sicht müssten die Waffen aber unter strikter französischer Kontrolle bleiben und ihre Lagerorte von französischen Streitkräften geschützt werden.
Großbritannien: Bereits Teil der NATO-Abschreckung
Auch Großbritannien verfügt über ein nukleares Arsenal - vier atomar bewaffnete U-Boote, von denen stets eines auf See ist. Im Gegensatz zu Frankreich stellt Großbritannien seine nukleare Abschreckung ausdrücklich in den Dienst der NATO. Nach Angaben eines Regierungssprechers nutzt Großbritannien seine nukleare Abschreckung bereits, um andere europäische Staaten zu schützen.
Teilhabe Deutschlands
Deutschland besitzt keine eigenen Atomwaffen, auf deutschem Boden sind allerdings US-amerikanische Nuklearwaffen stationiert. "Deutschland wird nicht selbst über Atomwaffen verfügen können und dürfen", betonte Merz am Sonntag. Es habe im Zwei-plus-Vier-Vertrag zur deutschen Einigung ausdrücklich auf Atomwaffen verzichtet. "Und dabei wird es auch bleiben." Über eine "nukleare Teilhabe" müssen man aber sehr wohl reden, sagte Merz wiederholt.
Der CDU-Chef folgt damit dem Wunsch der Bevölkerung, wenn man die neuesten repräsentativen Umfrage-Ergebnisse heranzieht: 64 Prozent der Deutschen lehnen eine nationale Atombombe ab, 31 Prozent sind dafür, 5 Prozent äußern sich nicht. Die Ablehnung ist im Osten (78 Prozent) stärker als im Westen (61 Prozent). Dennoch wuchs die Zahl der Befürworter leicht im Vergleich zum Vormonat (+5 Prozent). Anhänger aller politischen Parteien sind mehrheitlich gegen den Bau einer eigenen Atomwaffe, wobei bei der CDU/CSU aber die Ablehnung am kleinsten ist - 41 Prozent wären offen für den Bau.
NATO-Staaten erstmals nicht Beobachter
Erstmals nahm letzte Woche kein NATO-Staat an der Vertragsstaatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrags (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) als Beobachter teil. "Der Atomwaffenverbotsvertrag stammt aus einer Zeit vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Intention und Ambition des Vertrags bilden die gegenwärtige sicherheitspolitische Realität nicht mehr ab", erklärte das deutsche Außenministerium gegenüber der dpa. Der Atomwaffenverbotsvertrag verbietet unter anderem den Einsatz, Besitz und Transit, die Lagerung und Stationierung von Atomwaffen. Die globalen Atommächte, wie Russland oder die USA, sind keine Vertragsparteien.
Es hätte sich deutlich gezeigt, "dass die nukleare Abschreckung für unsere Sicherheit unverzichtbar ist - auch und gerade durch unsere Teilhabe innerhalb der NATO", hieß es von Seiten des deutschen Ministeriums weiter. Die Europäer müssten nun noch mehr Verantwortung für die eigene Verteidigung übernehmen.
Kritik kam von der Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN). "Dieser Boykott der Bundesregierung sendet ein fatales Signal", sagte Hubertus Sonntag, Vorstandsmitglied von ICAN Deutschland. "Er markiert einen dramatischen Rückschritt in Deutschlands Rolle als Befürworter der internationalen Abrüstungsdiplomatie und widerspricht dem von der Bundesregierung immer wieder genannten Ziel einer Welt ohne Atomwaffen." Die deutsche Regierung erteile entscheidenden diplomatischen Bemühungen um nukleare Abrüstung damit "eine knallharte Absage".
Österreich gilt als einer der globalen Themenführer in der nuklearen Abrüstung und hat den Atomwaffenverbotsvertrag federführend mitverhandelt. Die erste Vertragsstaatenkonferenz des TPNW fand unter österreichischem Vorsitz im Juni 2022 in Wien statt.
Öffentliche Meinung in Großbritannien und Frankreich
Eine Studie der Sciences Po in Paris hatte im Oktober 2024 die Meinung der britischen und französischen Bevölkerung in Bezug auf Nuklearwaffen untersucht: Etwa 35 Prozent der Befragten in beiden Ländern halten es für vertretbar, dass die Regierung im Krisenfall Entscheidungen über den Einsatz von Atomwaffen ohne Rücksprache mit der Bevölkerung trifft; ähnlich viele lehnen dies ab.
Die Finanzierung von Atomwaffenprogrammen über Steuergelder trifft auf gespaltene Meinungen: 40 Prozent der Franzosen und 36 Prozent der Briten unterstützen dies. Allerdings glauben in Großbritannien 49 Prozent der Befragten auch, keinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen nehmen zu können; in Frankreich sind es 39 Prozent.
In Frankreich gaben fast 43 Prozent an, ihnen sei die Debatte rund um Atomwaffen egal, 57 Prozent gaben zu, nicht genug über das Thema zu wissen. In Großbritannien waren dies im Vergleich nur 6 und 45 Prozent. Befragt wurden jeweils rund 1.000 repräsentativ ausgewählte Personen in beiden Ländern.
(Quelle: apa)