Wir erreichen Christian Wehrschütz am Freitagnachmittag via Telefon. Die Verbindung in die Ukraine bricht immer wieder für einige Momente ab, reißt aber nie vollständig. Der ORF-Korrespondent nimmt sich für das SALZBURG24-Interview ausreichend Zeit, am Ende entschuldigt er sich dann – er muss weiterarbeiten.
Es sind außergewöhnliche Zeiten für den Wahl-Salzburger, der am neunten Tag des Ukraine-Krieges weiterhin mitten im Geschehen ist. "Wir müssen täglich die Lage neu beurteilen und schauen, wie sie sich entwickelt. Wo können wir hinfahren, wo ist es zu gefährlich, mit wem kann man in Kontakt treten?", erklärt Wehrschütz. Als Besonderheit dieser Auseinandersetzung streicht er vor allem die Rolle der Sozialen Medien heraus: "Der geschätzte Generalmajor Günter Hofbauer hat unlängst gesagt, es handelt sich hier um den TikTok-Krieg. Ich würde sagen, es ist der Telegram-Krieg. Auf dieser Plattform spielt sich irrsinnig vieles ab."
SALZBURG24: Herr Wehrschütz, Sie erleben den Ukraine-Krieg hautnah vor Ort mit. Sie waren bis Mittwoch noch in Kiew mitten im Stadtzentrum, befinden sich nun in der Stadt Bila Zerkwa, zirka 60 Kilometer südlich der ukrainischen Hauptstadt.
Christian Wehrschütz: In unserem Büro in Kiew hätten wir wahrscheinlich auch jetzt noch eine bessere Internetverbindung. Aber die gesamte Infrastruktur hat sich deutlich verschlechtert. Unsere Angst war: Was machen wir in Kiew, wenn die Russen den Sack zumachen und möglicherweise auch die Internetverbindung nicht mehr funktioniert? Dann sitzen wir nur mehr im Luftschutzkeller und können nicht mehr berichten, das bedeutet, wir mussten auf unsere Bewegungsfreiheit schauen.
Es kann sein, dass wir in ein, zwei Tagen für eine Reportage wieder nach Kiew fahren. Von Bila Zerkwa braucht man – alle Kontrollposten miteingerechnet, die man passieren muss – zwei Stunden. Aber unsere Basis ist nun in Bila Zerkwa. Von hier aus können wir uns auch im Bedarfsfall weiter absetzen. Man braucht für Reisen innerhalb des Landes – auch in Gebiete, die noch nicht angegriffen werden – aufgrund von Sperren und Kontrollposten viel länger. Das muss man berücksichtigen.
Wie ist Ihre aktuelle Lage?
Wir bekommen wahnsinnige Nachrichten auf allen möglichen Kanälen, wo sich Menschen an uns wenden, deren Großmutter, Schwiegermutter oder andere Bekannte sich noch in der Ukraine befinden. Die Menschen bitten um Hilfe, damit diese Bekannten das Land irgendwie verlassen können.
Es geht ums so Dinge wie: Wer hat noch ein Auto, wer hat noch Benzin?
Wie erleben Sie die Stimmung der Menschen um Sie herum?
Bila Zerkwa bereitet sich auf den Krieg vor. Wie die Freiwilligen mit den ukrainischen Streitkräften oder der Nationalgarde genau kooperieren, ist mir unklar. Klar ist jedenfalls, dass die Freiwilligenverbände bestenfalls mit Kalaschnikows und Molotowcocktails ausgerüstet sind – Waffen, die eher für den Guerillakrieg geeignet sind. Würden die Russen versuchen die Stadt einzunehmen, würde das einen hohen Blutzoll fordern.
Wir haben bislang zweimal versucht, mit dem Bürgermeister in Kontakt zu treten, um mit ihm über die Lage zu sprechen, das haben wir bislang aber nicht geschafft.
Man sieht aber: Die Bevölkerung wird nervöser. Wenn wir in der Stadt mit der Kamera drehen, dauert es keine fünf Minuten, bis die ersten Patrouillen kommen und unsere Akkreditierung verlangen. Die Nervosität ist unter allen groß. Daher brauchen wir Leute, die uns in bestimmten Situationen helfen.
Die Schlinge zieht sich immer enger um Kiew, russische Truppen sollen nun versuchen, die ukrainische Hauptstadt einzukreisen. Wann rechnen Sie mit einem russischen Angriff?
Ich glaube schon, dass noch irgendeine Art offizielle russischer Aufforderung an die Bevölkerung geben wird, die Stadt zu verlassen. So dumm werden die Russen nicht sein, dass sie das nicht noch machen werden. Auch wenn sie bei der westlichen Welt schon unten durch sind, werden sie das nicht zuletzt für die eigene Bevölkerung machen.
Wie lange können die Verteidiger realistisch gesehen die Stadt halten?
Die Frage, wie lang man sich hält, kommt darauf an, welche Mittel von beiden Seiten eingesetzt werden. Inwieweit ist die Ukraine noch dazu in der Lage gegenzuhalten? Wie sieht die Versorgungslage der Ukrainer aus, wie die Nachschublage der Russen?
An sich hat der Verteidiger bei Kämpfen im urbanen Gelände sehr gute Karten. Vor allem, wenn man viele panzerbrechende Waffen besitzt. Man wird mit einem Molotowcocktail keinen russischen Panzer Typ T-80 aufhalten, aber man kann es den Angreifern damit schon unangenehm machen. Ein Panzer kämpft nicht gerne im urbanen Gelände.
Die Frage ist auch: Was wollen die Russen? Wenn sie das Ziel verfolgen, die russische Flagge in Kiew zu hissen, wird es blutig – aber auch für die Russen. Ich glaube, der Krieg für die Russen bereits blutiger geworden, als es Putin gedacht hätte.
Was würde der Fall Kiews für den weiteren Kriegsverlauf bedeuten? Würde das eine höhere Verhandlungsbereitschaft der Ukrainer bedeuten?
Das hängt davon ab, was die Russen militärisch noch alles aufzubieten haben. Sie haben bereits jetzt sehr viel ins Feld geschickt und bislang nicht einmal annähernd die halbe Ukraine erobert. Ich glaube nicht, dass die Ukrainer in diesem Fall kapitulieren würden, daher denke ich auch nicht, dass damit der Krieg aus wäre.
Wie sehr helfen den Ukrainern die Waffen aus dem Westen? Können diese ein Gamechanger im Krieg sein?
Gamechanger glaube ich nicht, aber in jedem Fall etwas Substanzielles. Die Kosten für eine panzerbrechende Waffe sind eben viel geringer als die Kosten für die Ausbildung einer Panzerbesatzung.
Wie schätzen Sie die Erfolgschancen der Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew ein?
Derzeit, denke ich, sind die Grundpositionen beider Seiten extrem weit auseinander. Die Russen fordern die Anerkennung der Krim und der beiden Volksrepubliken, dazu die Entmilitarisierung der Ukraine. Wenn das wirklich die Bedingungen sind: Wie soll das die Ukraine annehmen?
Auf der anderen Seite fordern die Ukrainer den totalen Truppenabzug der Russen, auch aus der Donbass-Region. Da weiß ich auch nicht, wie das die Russen annehmen sollen. Daher sehe ich hier im Moment sehr, sehr viele Fragezeichen.
Gibt es aus Ihrer Sicht eine gesichtswahrende Lösung, auf die sich beide Seiten einigen könnten?
Ich sehe derzeit keine gesichtswahrende Lösung.
Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus? Wann ist für Sie der Punkt gekommen, an dem Sie entscheiden, die Ukraine zu verlassen und wieder in Ihre Wahlheimat Salzburg zurückzukehren?
Eigentlich wollte ich gestern, am Donnerstag, bei der Geburtstagsfeier meiner Enkeltochter in der Heimat sein. Ich hoffe, dass es nicht so sein wird wie im Jahr der Krimkrise, 2014. Damals war ich ganze 20 Tage zu Hause.

Derzeit ist nicht absehbar, wie es weitergeht. Ich würde damit rechnen, dass der Konflikt noch mindestens zwei Wochen andauern wird – außer es kommt ein militärischer Zusammenbruch.
Vielen Dank für das Gespräch und passen Sie weiterhin auf sich auf.
(Quelle: salzburg24)