Die Ukraine hofft, am Mittwoch 6.000 Frauen, Kinder und ältere Menschen aus dem eingeschlossenen Mariupol herauszubringen. Dazu sollten 90 Busse nach Mariupol geschickt werden, sagt Bürgermeister Wadym Boischenko, der selbst die Stadt verlassen hat. Es befänden sich noch etwa 100.000 Zivilisten in der südostukrainischen Hafenstadt am Asowschen Meer. Zehntausende seien bei der Belagerung durch russische Truppen ums Leben gekommen. Unterdessen berichtet die Ukraine von einem massiven russischen Truppenaufmarsch im Osten des Landes.
Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk hatte am Mittwoch auf Facebook berichtet, dass eine vorläufige Vereinbarung für einen Evakuierungskorridor erzielt worden sei. "Angesichts der katastrophalen humanitären Lage in Mariupol werden wir unsere Bemühungen heute darauf konzentrieren", so Wereschtschuk.
Mariupol steht vor dem Fall
Die in Mariupol verbliebenen Marineinfanteristen baten indes um eine Evakuierung in einen Drittstaat. "Der Feind ist uns 10 zu 1 überlegen", sagte der Kommandant der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade, Serhij Wolyna, in einer am Mittwoch in der Früh auf Facebook veröffentlichten einminütigen Videobotschaft. "Wir appellieren an alle führenden Politiker der Welt, uns zu helfen." Russland habe Vorteile in der Luft, bei der Artillerie, den Bodentruppen, bei Ausrüstung und Panzern. Die ukrainische Seite verteidige nur ein Objekt, das Stahlwerk Asowstal, wo sich außer Militärs noch Zivilisten befänden. Die Soldaten, mehr als 500 verwundete Kämpfer und Hunderte Zivilisten sollten per Helikopter oder Schiff evakuiert werden, sagte Wolyna dem Sender CNN. "Das ist unser Appell an die Welt. Das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein."
"Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Nacht auf Mittwoch in einer Videobotschaft. Die russische Seite habe "fast alle und alles, was fähig ist, mit uns zu kämpfen, zusammengetrieben", sagte Selenskyj. Er forderte erneut Waffen. Die Lage in Mariupol sei "so schwierig wie nur möglich".
Ukrainische Soldaten in Stahlwerk
Bewohner der Stadt, die sich in den Händen russischer Einheiten befänden, versuche man zu "deportieren" oder in die russischen Truppen zu mobilisieren, kritisierte Selenskyj. Leider bekomme man keine Antworten auf den Vorschlag eines Austauschs, der es erlauben würde, Zivilisten und Verteidiger der Stadt zu retten. Nähere Angaben zu dem Austausch machte er nicht.
Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter Kontrolle bringen und forderte Hunderte ukrainische Kämpfer in einem Stahlwerk am Dienstag noch einmal zur Kapitulation auf. Diese weigerten sich jedoch.
Schwere Kämpfe in Donbass-Region
Indes berichtete das Asow-Regiment, dass das Stahlwerk durch schwere Bomben praktisch komplett zerstört worden sei und viele Menschen unter den Trümmern begraben worden seien. "Wir ziehen Menschen aus dem Schutt", sagte der Vizechef des Asow-Regiments, Swiatoslaw Palamar, laut der Nachrichtenagentur Ukrinform. Er betonte, dass die Verteidiger "bis zur letzten Patrone" kämpfen werden. Zugleich rief er die Regierung auf, Zivilisten, Verwundete und Leichen aus der Stadt zu bringen.
Unterdessen nehmen die Kämpfe in der ostukrainischen Donbass-Region britischen Angaben zufolge weiter zu. Die russischen Streitkräfte versuchten dort, die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, teilt der britische Militärgeheimdienst in einem neuen Lagebericht mit. Zudem verstärke Russland seine Truppen an der Ostgrenze der Ukraine weiter. Auch bestehe weiter die Gefahr russischer Luftangriffe auf Ziele in der gesamten Ukraine. Russland versuche so, die Verstärkung der ukrainischen Streitkräfte mit Truppen und Waffen im Osten des Landes zu stören. In der Nord-Ukraine dürfte es aber nach dem Rückzug aus der Hauptstadtregion Kiew weiterhin weniger russische Luftangriffe geben.
Konkretes Verhandlungsangebot an Kiew
Russland hat nach eigenen Angaben der Ukraine ein schriftliches Angebot für eine Verhandlungslösung im Krieg übergeben. "Jetzt wurde der ukrainischen Seite unser Entwurf des Dokuments übergeben, der absolut klare und ausgefeilte Formulierungen beinhaltet", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. Details zum Inhalt der russischen Vorschläge machte er nicht. Frist, bis wann Kiew auf das Angebot antworten müsse, gebe es keine, betonte Peskow.
Er machte aber deutlich, dass Moskau mit dem bisherigen Verhandlungstempo unzufrieden sei. "Wir haben schon mehrmals gesagt, dass die Dynamik der Arbeit der ukrainischen Seite zu wünschen übrig lässt", so Peskow. Nun sei "der Ball auf der Seite" der Ukrainer.
Verhandlungen im Ukraine-Krieg
Zuvor hatte die Sprecherin des Außenministeriums in Moskau, Maria Sacharowa, erklärt, Russland habe kein Vertrauen in die ukrainischen Unterhändler mehr. Diese änderten ständig ihren Standpunkt und hielten sich nicht an ausgehandelte Abmachungen, behauptete sie.
Die Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew hatten am 28. Februar begonnen, vier Tage nach dem von Russlands Präsident Wladimir Putin befohlenen Angriff auf die Ukraine. Russland forderte in den Verhandlungen bisher unter anderem die Neutralität der Ukraine und die Abtretung der Gebiete Donezk und Luhansk sowie die Anerkennung der Halbinsel Krim als russisch. Kiew lehnt es kategorisch ab, auf eigenes Staatsgebiet zu verzichten.
Westliche Staaten liefern schwere Waffen
Gerade angesichts der nun einsetzenden Materialschlacht in der Ostukraine hatten westliche Staaten wie die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich am Dienstag verabredet, der Ukraine auch schwerere Waffen zu liefern. Norwegen kündigte an, 100 Luftabwehrraketen vom Typ Mistral zu liefern. Die Waffen seien bereits verschifft worden, teilte das norwegische Verteidigungsministerium mit.
US-Präsident Joe Biden wird Insidern zufolge in den kommenden Tagen ein weiteres Militärhilfepaket für die Ukraine ankündigen. Es werde in etwa den gleichen Umfang wie das in der vergangenen Woche aufgelegte 800-Millionen-Dollar-Paket haben, sagten mehrere mit der Angelegenheit vertraute Personen. Die Details würden noch ausgearbeitet, erklärte einer der Insider. Damit würden sich die US-Militärhilfen für die Ukraine seit dem Einmarsch Russlands im Februar auf weit über drei Milliarden Dollar (2,78 Mrd. Euro) belaufen.
EU will Ukraine Militärhilfe zukommen lassen
Die Europäische Union will der Ukraine weitere 1,5 Milliarden Euro an Militärhilfe zukommen lassen. Dies gab EU-Ratspräsident Michel in Kiew bekannt. Die Bundesregierung hatte vergangenen Freitag beschlossen, der Ukraine für mehr als eine Milliarde Euro Waffen zu liefern. Dies soll auf drei Wegen geschehen: durch Abgaben von Militärmaterial der Bundeswehr, direkte Käufe bei der Industrie für die Ukraine und Ersatzlieferungen an osteuropäische Länder, die ihrerseits Waffen aus russischer Produktion an die Ukraine abgeben. Allerdings komme die Lieferung aus Bundeswehrbeständen an ein Ende, sagte ein Regierungssprecher.
Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hatte betont, dass man die USA und die Niederlande etwa bei der Lieferung von Artillerie unterstützen werde. Deutschland könne hierbei Ausbildung und Munitionslieferung übernehmen, hatte es schon am Dienstag in Regierungskreisen geheißen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte auf einer Baltikum-Reise, dass die Lieferung gepanzerter Fahrzeuge kein Tabu sei.
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(Quelle: apa)