Diesen Abend, der für ein so dichtes Prominenten-Aufkommen sorgte wie schon lange keine Burgtheater-Premiere mehr, muss man zwar nicht unbedingt historisch nennen, sollte ihn aber historisch einordnen: Ganze 50 Jahre ist es her, dass Claus Peymann die "Publikumsbeschimpfung" des damals 23-jährigen österreichischen Dichters im Frankfurter Theater am Turm zur Uraufführung brachte. Einige Kapitel Theatergeschichte haben die beiden seither gemeinsam geschrieben. "Die Unschuldigen" waren Peymanns zehnte Handke-Uraufführung, die fünfte an jenem Haus, das der heute 78-jährige Direktor des Berliner Ensembles 1986 bis 1999 leitete.
Peymanns Stärke war stets seine unbedingte Verehrung für jene, die aus dem Nichts mittels Sprache jenen Stoff formen können, aus dem die Bühnenträume sind. Seine genaue Lesart, sein Beharren, Bilder für die dichterische Fantasie zu finden und kein eigenes Material hinzuzufügen, wurde charakteristisch, in einer Welt der Disparatheit, des Stück- und Flickwerks, der permanenten medialen Ablenkung zunehmend anachronistisch. Auch diesmal hat der Regisseur von dem 170 Buchseiten umfassenden Stück zwar manches gestrichen, aber alles Wesentliche getreulich umgesetzt - ganz so, wie es zu erwarten war. "Überrascht mich!", hatte sich Peter Handke im Vorfeld gewünscht. Überraschung bot die Inszenierung keine.
Karl-Ernst Herrmann hat auf einer nackten, weiten, schrägen Spielfläche, durch einen zunächst und am Ende wieder geschlossenen zarten Brecht-Vorhang verdeckt und so als Bühne verdeutlicht, eine weite Kurve markiert, die uns und das wartende "Ich" die daherziehenden Landstraßen-Passanten lange ins Auge fassen lässt, ehe sie nach vorne kommen. Mit "Kommen lassen. Anfliegen lassen. Träumen lassen" beginnt Nell, Ensemblemitglied am koproduzierenden Berliner Ensemble, wo die Inszenierung ab 30. April gezeigt wird, den dreistündigen Abend (eine Pause), der in Verehrung für Handkes welthaltige Poetik als Hochamt zelebriert und in gleichzeitiger Brechung augenzwinkernd als kunstvolles Bühnenmärchen umgesetzt wird.
Peymann gebietet über delikate Lichtstimmungen und kleine Klangkunstspiele, er herrscht über Blitz und Donner und lässt die Vögel zwitschern. Vor allem liebt er Zaubertricks wie das plötzlich aus der Unterbühne Hervorbrechen jenes aus allerlei Versatzstücken wie einer schiefen, verrosteten Haltestellen-Stange zusammengesetzten Gestells, das dem "Ich" Ausguck und Basislager, Warteposition und Hauptquartier bietet. Gegen Ende wird es verschwinden und durch ein rot-weiß-rotes Windrad ersetzt werden. Immer noch Sturm.
Christopher Nell, am Ende zu Recht stürmisch umjubelt, entwickelt seine in ein episches und ein dramatisches Ich gespaltene Figur (die zudem mit Felix Strobel noch einen Doppelgänger unter den daherziehenden "Unschuldigen" erhält) ganz aus der Ambivalenz des Grundkonzeptes zwischen Weihespiel und ironisierender Distanz. Er nimmt sich ernst - aber nicht zu sehr. Er wirkt zufrieden in seiner splendid isolation und erwartet doch ungeduldig Gesellschaft.
Wie das Solo der ersten halben Stunde, die an eine monologische "Warten auf Godot"-Variation erinnert, in der Begegnung mit den ignoranten Passanten, die der Wartende zunehmend als Okkupanten empfindet, in Unverständnis und Verärgerung umschlägt, das hat Peymann deutlich herausgearbeitet. Horden von stupiden Dauer-Telefonierern, die ihn zuerst ignorieren, dann verspotten ("Ecce poeta!"), gehen dem Landstraßen-Wächter bald auf den Geist. Er erklärt den Un-Hiesigen, die sich als Un-Schuldige gebärden, den Krieg - und bekommt von ihrem Anführer zu hören: "Wer schreit, hat Un-Recht!"
Die über die Landstraße Ziehenden mit der neuen Völkerwanderung von heute in Verbindung zu bringen, diesen Versuch unternimmt Peymann gar nicht erst. Er widmet sich nicht einer möglichen oder scheinbaren Aktualität, sondern dem "präzisen Tiefentraum vom Menschsein", wie Handke sein Stück selbst charakterisiert hatte. Dieses Menschsein findet sich seit jeher im Theater abgebildet, lautete stets Peymanns Hypothese, und daher sind neben dem zentralen "Ich" auch alle übrigen Gestalten reine Bühnenfiguren, von Margit Koppendorfer bunt und lustig eingekleidet.
Die Auseinandersetzung mit der großteils stummen Gruppe der "Unschuldigen", dem "Pack, Doppelpack, Tetrapack", das dem Einzelnen das Leben zunehmend verleidet, mit Martin Schwab (ein von Wind und Wetter gegerbter künstlerischer Desperado mit Haar-Schwänzchen) und Maria Happel (eine knallrot gewandete, virtuose Lach-Arien und erotisches Selbstbewusstsein verbreitende Diva) als ihren Wortführern, sind ebenso reine Theaterszenen wie die Begegnung mit der geheimnisvollen "Unbekannten von der Landstraße", die in Gestalt von Regina Fritsch in schwarzem Kleid an eine griechische Hohepriesterin erinnert.
Der raue Wind der Wirklichkeit verirrt sich in Gestalt einer seltsamen, rasch gesprengten Demonstration, die u.a. "Freiheit, Gleichheit, Informiertheit" fordert, nur kurz hierher. Mit deutlich größerem Vergnügen zelebriert Peymann die übersteigerte Selbstkritik des dramatischen Ichs ("Und noch nie, kein einziges Mal im Leben, ist mir, im Phantasieren eines Dramas, ein Ende geglückt.") mit einer Reihe "falscher" Schlüsse, auf die das immer wieder erneut zum vermeintlichen Schlussapplaus einsetzende Publikum stets aufs Neue hereinfällt.
Am Ende stand ein "Ach, ja!", viel Jubel - vor allem für Nell und Happel - und ein sich zunehmend entspannender Claus Peymann, der sich bei der Rückkehr an die Stätte einstiger Triumphe durchaus willkommen geheißen fühlte. Seine Position als erster Handke-Exeget ist jedenfalls weiter unangefochten. Das Bayerische Staatsschauspiel hat vor wenigen Tagen die Deutsche Erstaufführung des Stückes abgesagt. "Die künstlerischen Differenzen über Wege und Ziele waren zuletzt unüberbrückbar geworden", hieß es. Peymann geht dagegen seinen eigenen Handke-Weg seit 50 Jahren. Keineswegs unschuldig, doch unbeirrbar.
(Quelle: salzburg24)