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Internationale Pressestimmen zum Türkei-Referendum

Veröffentlicht: 18. April 2017 11:31 Uhr
Den Ausgang des Verfassungsreferendums in der Türkei, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit knapper Mehrheit gewonnen hat, war am Dienstag in der internationalen Presse Thema. Wir liefern euch hier einen Überblick über die Schlagzeilen.

"Süddeutsche Zeitung" (München):

"Recep Tayyip Erdogan hat einen Sieg errungen, sein Volk hat ihm so viel Macht anvertraut wie keinem Türken seit Kemal Atatürk (...). Aber Erdogan ist ein zerfledderter Sieger, ein Sultan in zerrissenen Kleidern. Denn jeder zweite Türke verweigerte sich seinem postkemalistischen Projekt, seinem konservativ-autoritären Staatsumbau. Und das trotz einer Wahlkampagne, die eher ein Feldzug war, geprägt von Furcht und Schrecken, und angeführt vom Staatspräsidenten persönlich, der sich nicht darum scherte, dass die noch geltende Verfassung von ihm eigentlich Neutralität verlangt. So muss dieser Sieg auch für Erdogan bitter schmecken. Denn der Langzeitherrscher kann sich von nun an nicht mehr absolut sicher sein, dass er die absolute Macht, die ihm die neue Verfassung verleihen soll, je wirklich erhält. Die Verfassungsänderung tritt erst nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen im November 2019 in Kraft. Dass Erdogan diese gewinnt, ist nach dem Ergebnis vom Sonntag keineswegs gewiss."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung":

"Die Europäer sollten die neue Realität anerkennen und die Beitrittsverhandlungen, die ohnehin nur noch eine Farce waren, tatsächlich aussetzen. Mindestens das. Ja, die EU hat großes Interesse an engen und stabilen Beziehungen zum NATO-Mitglied Türkei. Aber Enge und Stabilität sind auch unterhalb der Schwelle zur Mitgliedschaft möglich. Vielleicht kann das künftige Verhältnis zu Großbritannien ja Vorbild sein. Die Mitgliedschaft der Türkei war jedenfalls seit dem Beitrittsgesuch umstritten. (...) Etwas muss überdies zu denken geben: Die große Mehrheit der Türken in Westeuropa stimmte für Erdogans Ein-Mann-System, Leute also, die in freien, demokratisch verfassten, nicht nationalistisch besoffenen Gesellschaften leben (können) - für die Türkei aber den Autoritarismus wollen."

"Die Welt" (Berlin):

"Die Türkei hat die Tür zur EU lautstark zugeschlagen. Und sie hat sich dabei in einer Weise verhalten, die wir schon aus unseren eigenen Reihen kennen, aus Großbritannien etwa und den USA. Land und Provinz haben sich gegen Stadt und Metropole durchgesetzt. Die real people haben die Eliten überstimmt, die Konservativen die Fortschrittlichen, die Gläubigen die Laizisten, die Fanatiker, die Nachdenklichen, die Dummen, die Schlauen. Polemisch formuliert: Die Nachzügler haben die Avantgarde, die Unproduktiven haben die Produktiven überstimmt. Der Staatsapparat hat gewonnen, die Wirtschaft verloren. Vielleicht weisen die Verhandlungen mit Großbritannien einen Weg, wie später auch die Türkei auf neue Weise an die EU assoziiert werden könnte. Das wäre dann aber eine andere Türkei als die heutige."

"Neue Zürcher Zeitung":

"Was ist das nur für ein Präsident, dem in der Stunde seines größten Triumphes nichts Besseres einfällt, als über die Wiedereinführung der Todesstrafe zu sprechen? Da steht ein Mann kurz vor der Erfüllung seines politischen Lebenstraums, da schäumt er schon wieder. Da hat ihn eine knappe Mehrheit der Türken gerade vor der vielleicht schmerzlichsten Niederlage seiner Karriere bewahrt, da stößt er schon wieder Millionen vor den Kopf. (...)

Auch über die Türkei hinaus wird dieser Systemwechsel Auswirkungen haben. Denn das Land, das früher fest in der westlichen Wertegemeinschaft verankert war und den Anschluss an Europa suchte, hat den von Staatsgründer Atatürk verordneten Westkurs schon revidiert, lange bevor Erdogan sein Ermächtigungsgesetz auf den Weg brachte. Eher orientiert sich die 'neue Türkei' heute an ihren autokratischen Nachbarn im Osten, Norden und Süden. Den Jahrhunderttest, islamische Normen und rechtsstaatliche, demokratische Regeln zu vereinbaren, haben der türkische Präsident und seine AKP damit nicht bestanden."

"Le Monde" (Paris):

"Man wird sagen, dass das Land in jüngster Vergangenheit zahlreiche Traumata durchlebt hat: der schreckliche, endlose Krieg im Nachbarland Syrien und der Flüchtlingsstrom in die Türkei; eine Anschlagswelle, verübt von lokalen Zellen der Organisation Islamischer Staat; der Krieg mit den eigenen Kurden; der versuchte Militärputsch im Juli 2016. All das ist wahr. (...)

Aber wegen seiner Abenteuerlust in Syrien, wo er mit dem radikalen Islamismus gespielt hat, wegen der unverhältnismäßigen Repression, die er im Sommer 2016 in Gang gesetzt hat, wegen seines Strebens, die Presse und den gesamten Staat zu unterwerfen, ist Herr Erdogan in großem Maße für das Unglück seines Landes verantwortlich. Dieser völlig kritikunfähige Mann, der bereit ist, seine europäischen Kollegen zu beleidigen und eine 'Weltverschwörung' anzuprangern, ist jetzt mit für ihn maßgeschneiderter Macht ausgestattet. Das ist nicht gut, weder für die Türkei noch für Europa."

"The Guardian" (London):

"Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die Türkei aufgrund des Referendums vom Sonntag, bei dem mit knapper Mehrheit tiefgreifende Verfassungsänderungen bestätigt wurden, die Präsident Recep Tayyip Erdogan beispiellos weitreichende Macht geben, in ein erschreckendes und unvorhersehbares neues Kapitel ihrer politischen Geschichte eingetreten ist.

Mit der Umsetzung dieser Reformen wird die Türkei fast in ein Sultanat verwandelt - nahezu 100 Jahre, nachdem Atatürk auf den Ruinen des Osmanischen Reichs die türkische Republik gründete. Für Europa und für die westlichen Verbündeten der Türkei in der NATO dürfte diese Transformation bedeutende Folgen haben. Die ohnehin schon angespannten Beziehungen werden sich weiter verschlechtern. Und das zu einer Zeit, da die Kooperation der Türkei in der Flüchtlingsfrage besonders wichtig ist."

"La Repubblica" (Rom):

"Das Ergebnis des türkischen Referendums steht auf der Kippe zwischen offiziellem Erfolg und einem politischen Affront. Überzeugt davon, dass er genügend Charisma und Popularität hat, hatte sich Recep Tayyip Erdogan mehr erhofft. Er zählte auf einen vollen Konsens bei der Volksabstimmung, nun erhält er diesen allerdings nur durch eine Handvoll Stimmen (...).

Das Ergebnis von Sonntag lässt uns eine Türkei wiederentdecken, die alles andere als von Erdogan komplett unterworfen oder verführt wurde. Eine Gesellschaft ist wieder aufgeblüht, die zum Teil angezogen wird von einem nationalistischen Autoritarismus, von einem stark religiösen Konzept, (...) gleichzeitig aber zum Teil erobert worden ist vom westlichen Liberalismus.

Das unerwartete Ergebnis von Sonntag hat uns gezeigt, dass dieses große Land resistent ist gegen die Verrücktheiten seines Anführers. Nach dem Urnengang sollte Erdogan nun einen 'respektvollen Dialog' mit allen politischen Kräften führen. Er sollte vor allem besonnener werden."

"Politiken" (Kopenhagen):

"Die Türkei hat es nicht leicht. So weit hat Präsident Erdogan Recht. Ein militärischer Putschversuch im Sommer wäre fast gelungen. Eine kurdische Guerilla rebelliert in mehreren Städten. Der Terror hat schon zu viele Leben gekostet und ist immer noch eine Bedrohung. Und ein blutiger Krieg wütet im Nachbarland Syrien. Aber dass Erdogans neue Verfassung, die am Sonntag bei einer Volksabstimmung angenommen wurde, die Lösung für die Instabilität der Türkei sein soll, ist auf bedrohliche Weise falsch. (...) Weder die Bürger der Türkei, die EU noch die NATO haben ein Interesse daran, zu ignorieren, dass Erdogan der Demokratie in der Türkei die Luft abschnürt."

"Wedomosti" (Moskau):

"Präsident Recep Tayyip Erdogan ist als Politiker ein Führertyp, der sich nicht auf Institutionen stützt, sondern auf seine eigene Autorität und seine Unterstützer. Für den türkischen Staatsgründer Kemal Atatürk waren die Unterstützer das Militär, für Erdogan sind es politische Islamisten. (...) Auf der Suche nach Unterstützung seiner traditionellen Anhänger wird Erdogan eine populistischere Politik machen und die Schrauben anziehen. Dies erhöht das Risiko unvorhersehbarer Schritte vor allem im Syrien-Konflikt, wo die Zusammenarbeit mit Russland erneut einer Konfrontation weichen könnte."

"Lidove noviny" (Prag):

"Die Tatsache, dass die Türken ein Präsidialsystem gewählt haben, stellt die Welt nicht auf den Kopf. Eher zeigt es die Dinge so, wie sie sind - nämlich, dass die Türken das Führerprinzip der liberalen Demokratie vorziehen. Das interessanteste Detail versteckt sich woanders: Die größten Bastionen des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sind neben den ländlichen Regionen die türkischen Wähler in Deutschland, Dänemark, Belgien und Österreich. Was ist da falsch gelaufen? Eine klare Antwort darauf fehlt bisher, aber die Vorstellung, dass aus seit Generationen in der EU lebenden Türken neue deutsche Weltbürger werden, ist gescheitert."

"Trud" (Sofia):

"Nach dem Referendum kann man folgerichtig einen neuen Angriff auf die Prinzipien des weltlichen Staates erwarten und auch einen stärkeren Druck auf alle, die den Präsidenten (Recep Tayyip Erdogan) nicht unterstützen. Nach dem Referendum erwachte die Türkei gespalten in zwei Teilen, zwischen denen es eine tiefe Kluft gibt. Es handelt sich um einen Unterschied bei der Zivilisationsansicht, wie sich der Staat entwickeln soll. Die Spannung wird wachsen. Die kommenden Monate werden kritisch sein. Sollte Recep (Tayyip) Erdogan die Lage nicht in Griff bekommen, könnte der Ausgang der Präsidentenwahl 2019 unberechenbar für ihn werden."

"Pravda" (Bratislava):

"Wenn ein Despot über etwas abstimmen lässt, dann tut er es nicht, weil er der Gegenseite die Chance geben will, ihn zu besiegen. Sondern nur, um dem, was er ohnehin machen wollte, den Schein einer Legitimität zu geben.

Von einer demokratischen Abstimmung zu reden in einem Land, in dem Dutzende Journalisten im Gefängnis sitzen und in dem Lehrer, Beamte und Juristen verfolgt werden, wäre auch dann sinnlos, wenn es keine Zweifel am regulären Abstimmungsverlauf gegeben hätte. Recep Tayyip Erdogan hat das Referendum, das ihn zum modernen Sultan machen soll, schon gefälscht, bevor es überhaupt begann: Die Opposition hatte keine gleichberechtigte Chance für ihre Kampagne, die Oppositionsparteien werden seit langem eingeschüchtert und oppositionelle Politiker werden als Kriminelle abgestempelt."

(APA)

(Quelle: salzburg24)

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