Welt

Türkei marschiert immer mehr ins Chaos

Anti-Regierungs-Proteste in Istanbul
Veröffentlicht: 29. Juli 2015 05:53 Uhr
Lange hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gedacht, er müsste die Jihadisten in Syrien nur nähren, und diese würden dann irgendwann seine Gegner stürzen und ermorden. Doch der syrische Präsident Bashar al-Assad ist immer noch an der Macht, und seit dem mutmaßlichen Terroranschlag in Suruc vergangene Woche ist der Islamische Staat (IS) endgültig ein türkisches Problem.

Jetzt rächen sich auch noch die Kurden und schießen auf türkische Polizisten. Nach jahrelanger Zurückhaltung bombardiert Ankara seit Freitag Stellungen des IS in Syrien und erlaubte zudem den USA, eigene Luftangriffe von dem strategisch günstig gelegenen Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus zu starten. Gleichzeitig bombardiert Ankara die kurdische Arbeiterpartei PKK im Nordirak. Und um die Sache noch zu verkomplizieren erklärte Erdog am Dienstag den Friedensprozess zwischen Ankara und der PKK für beendet. "Es ist nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die die Einheit und Integrität der Türkei untergraben", sagte er.

Syrischer Bürgerkrieg beendete friedliche Nachbarschaft

Die Türkei marschiert somit geradewegs ins Chaos, sowohl innen als auch außenpolitisch. Dabei war Erdogan einst voller Hoffnung, als sich die zwei Nachbarn nach jahrzehntelanger Eiszeit wieder annäherten. Erdogan und Assad haben sich einst so prächtig verstanden, dass der Türke den Syrer einen "Bruder" nannte. Es wurde die Visumpflicht aufgehoben, die Kabinette tagten gemeinsam.

Dann begann im März 2011 der syrische Bürgerkrieg, zu Beginn versuchte Erdogan noch, Assad zu Reformen zu bewegen. Dieser machte tatsächlich Zusagen, die Erdogan öffentlich lobte, um dann zu erleben, dass Assad seine Versprechen nicht einhielt. Seitdem gehört Ankara zu den schärfsten Gegnern Assads - und Damaskus wirft dem einstigen Badefreund vor, Terroristen zu unterstützen.

Erdogan entschieden gegen Unabhängigkeit der Kurden

Inmitten der syrischen Kriegswirren bildete sich in Nordsyrien eine autonome kurdische Region, die von den Kurden Rojava (Westen) genannt wird. Ein Gebiet, das sich im Dreiländereck zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei über fast 600 Kilometer entlang der syrisch-türkischen Grenze erstreckt. Ein Albtraum für Erdogan, der noch mehr als die Islamisten die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden fürchtete, und klarstellte, dass er einen Staat Kurdistan niemals dulden werde. Als im Spätsommer letzten Jahres der IS die Stadt Kobane in Rojava überrannte, schaute Ankara dem Gemetzel tatenlos zu, in der Türkei demonstrierten daraufhin tausende Kurden gegen die Regierung.

So wurde die Liste der Vorwürfe gegen Ankara immer länger. Die AKP-Regierung wurde beschuldigt, durch ihre Politik der offenen Grenzen zum Erstarken des IS und zur Schwächung der Kurden beigetragen zu haben. Erdogan wurde auch vorgeworfen, die Gefahr durch den IS in der Hoffnung auf einen schnellen Sturz des Assad-Regimes in Syrien ignoriert zu haben. Indirekt soll die Türkei außerdem als schwarzer Absatzmarkt für das Öl, das in den vom IS eroberten Gebieten gefördert wird, Millionenbeträge in die Kriegskasse der Terroristen spülen. Doch wer es wagte, dies zu behaupten, bekam Erdogans Zorn zu spüren. Als im September 2014 die US-Tageszeitung "New York Times" die Türkei als sicheren Rückzugsort für die Terroristen darstellte und suggerierte, die AKP würde den IS gar unterstützen, reagierte der Präsident gewohnt angreifend: "Fehlleitende Artikel einiger Zeitungen werden den Ruf dieses Landes nicht beschädigen. Wir kennen ihre Absichten sehr gut", sagte er, und schimpfte, die Behauptungen seien Lügen.

Erdogan scheint in die Enge getrieben

Als die regierungskritische türkische Tageszeitung "Cumhuriyet" Ende Mai Aufnahmen veröffentlichte, die eine Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes für Extremisten in Syrien Anfang 2014 belegen sollten, leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den Chefredakteur Can Dündar ein. Erdogan höchstpersönlich soll die Anzeige wegen Terrorpropaganda und Spionage eingereicht haben, twitterte Dündar.

Doch die Taktik des Zurücklehnens, Wegschauens, Wegsperrens funktionierte seit dem Anschlag in Suruc mit rund 32 Opfern nicht mehr. Neben der Bedrohung durch den IS und der Angst vor den Kurden holte den Präsidenten das ernüchternde Ergebnis der Parlamentswahlen ein. Die AKP holte am 7. Juni 41 Prozent der Stimmen, die prokurdische HDP schaffte 13 Prozent. Nach zwölf Jahren an der Regierung muss die AKP sich erstmals einen Koalitionspartner suchen, die Kurden haben Erdogans Traum von einer Präsidialregierung vorerst zerstört.

Deswegen sei der Zweifrontenkrieg gegen den IS und gegen die PKK sogar für Erdogan sogar sehr vorteilhaft, sagt der Politikwissenschaftler und Militärexperte von der Istanbuler Yildiz Teknik Universität, Ismet Akca, im APA-Gespräch. "Denn Erdogan ist nicht mehr an einer politischen Lösung des Kurdenkonflikts interessiert", so Akca. "Deswegen fährt er jetzt eine nationalistische-militärische Strategie (...) Er will den Türken zeigen, dass wenn sie keine stabile AKP-Regierung haben, dann wird es in der Türkei Terror geben."

Denn wenn bis Ende August keine Koalition gebildet wird, könnte es zu Neuwahlen kommen. "Genau das will Erdogan erreichen", sagt Akca. "Deswegen provoziert die Regierung nun die PKK und erhofft sich, dass diese zurückschlägt", so Akca. Dann wiederum könne die AKP die HDP noch näher mit der PKK in Verbindung bringen und so Stimmen von nationalistischen Wählern dazugewinnen, oder gar die HDP bei den Neuwahlen ganz aus dem Parlament werfen.

(APA)

(Quelle: salzburg24)

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