"Walter Nowak bleibt liegen" heißt Wolfs Text, der einen Auszug aus dem ersten Kapitel eines Romans darstellt. In kurzen, abgehackten Sätzen erzählt darin Walter, ein 69-jähriger Mann, der jeden Tag 1.000 Meter schwimmt, nun aber daheim nackt und blutend auf dem Badezimmerboden auf die Rückkehr seiner Frau Yvonne wartet, über sein Leben, seine Frau und seinen Morgen im Bad, wo er mit dem Kopf an den Beckenrand geknallt war. Mit dem Text erschloss sich auch Wolfs ungewöhnliches Porträtvideo, das alte Männer im Schwimmbad zeigt.
Für Jurorin Sandra Kegel handelt es sich um einen "ganz starken Text, der von seiner sprachlichen Raffinesse lebt" und "ganz großartig gearbeitet" ist. "Sehr beeindruckt" zeigten sich auch Stefan Gmünder, Juri Steiner und Hubert Winkels, der Wolf eingeladen hatte. Zweifel formulierten Hildegard Keller, für die der Text vor allem als Hörtext funktioniert, und Meike Feßmann, die die Textwirkung vom zuvor gezeigten Video überlagert und die Erzählperspektive nicht einleuchtend fand. Klaus Kastberger nannte ihn etwas sarkastisch "wohltuend altmodisch": "Der Text hätte schon vor 25 Jahren hier einen Preis verdient und wird hier auch noch in 25 Jahren gelesen werden können."
"Araber und Schakale" hieß anschließend der Text des Münchners Jan Snela, der von Meike Feßmann eingeladen worden war. In dem Text wimmelt es von Wasserpfeifen, Turbanen und Pluderhosen, gibt es ein "Amt für Wüstenangelegenheiten", ein "Selamlück" (Herrenzimmer), einen "Zeltaufschläger" Halef, zwei Schakale namens Kalila und Dimna, einen Supermarkt mit Kamel-Konserven, Falafeln und Datteln sowie einen "schweren Fall von wandernder Desertifizierung mit Fatamorganenwahnsinn".
Der Text entzweite die Jury wie keiner vor ihm und führte, ausgehend von Hubert Winkels Befund, das angestrebte Spiel mit Ängsten gehe in der Verrappung von Orientalismen nach hinten los ("Der Text bereitet mir einiges Unbehagen. (...) Radikal gesagt ist es ein Text für Pegida."), zu einem heftigen Streit zwischen Feßmann ("ein ganz grandioser Text") und Kastberger, dem die vielen "hineingegoogelten Begriffe" "auf den Wecker gegangen" sind. Kritik gab es auch von Sandra Kegel, während Stefan Gmünder den Text als "reine Karl-May-Parodie" gelesen hatte. Hildegard Keller warnte "Wir dürfen nicht an der Oberfläche bleiben!" und fragte ihren österreichischen Jurykollegen, dem mangelnde Fantasie vorgeworfen wurde: "Wir halten Sie es mit den Kamelen, Herr Kastberger?"
Die in Leipzig, wo sie am Literaturinstitut studiert hatte, lebende Isabelle Lehn las zum Abschluss des Vormittags "Binde zwei Vögel zusammen". Ein nach Hause zu seiner Freundin zurückgekehrter Ich-Erzähler erinnert sich an seine Zeit, in der er in einem Trainingscamp, das möglicherweise früher ein Filmset war, mit Sensorgeschirr und Vollbart eine Figur namens Aladdin spielte. Eine Art Real-Life-Game, in dem Soldaten Taliban darstellen und vom Arbeitsamt geschickte Arbeitslose als Statisten des "Dorflebens" fungieren.
Die Ähnlichkeit mit dem vorangegangen Text von Jan Snela sei frappant, fand die Jury, die allerdings weitgehend zu konträren Urteilen kam. Kastberger fand ihn "viel besser gelungen", Juri Steiner zeigte sich "gepackt". "Viel Könnerschaft" ortete Hildegard Keller, und Hubert Winkels fand, er sei "nahe dran, was läuft". Auch Feßmann, die Lehn eingeladen hatte, meinte, der Text fasse "die Absurdität unserer Gegenwart" zwischen "Krieg und Präkariat" gut zusammen. Sandra Kegel sah "eine großartige Anlage", bei der aber nichts eingelöst und letztlich "Befindlichkeitsprosa" abgeliefert werde, Stefan Gmünder vermisste Spannung und Überraschung.
Der Nachmittag des zweiten Lesetags bot Deutsch in zwei sehr unterschiedlichen Färbungen. Zunächst las der in Tel Aviv lebende Israeli Tomer Gardi einen Text, in dem der Ich-Erzähler mit seiner Mutter mit dem Flugzeug in Berlin-Schönefeld ankommt und fremde Koffer vom Gepäck-Laufband nimmt. Gardis nächstes Buch, das im Grazer Droschl Verlag erscheinen wird, heißt "Broken German". Das in seinem Bachmann-Text in gebrochenem Deutsch voller Fehler beschriebene Auspacken der gestohlenen Gepäckstücke und Anprobieren der fremden Kleidungsstücke wird zum Ausprobieren anderer Identitäten und zur Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn: "Ich werf es an dir, Kind. Ich werf dir das an. Ich befreie mich. Ich lass es dir nach. Jetzt legt es an dir Kind. In deiner Hand. Jetzt bist du dran."
Die Jury hatte daran einiges zu kauen. "Unsere Kategorien funktionieren nicht mehr", bekannte Meike Feßmann. "Vor zehn Jahren hätten wir argumentiert: Bei einem Literaturwettbewerb sollte Grundvoraussetzung die Beherrschung der deutschen Sprache sein." Heute habe man sich an Hybrid-Sprache gewöhnt und müsse im Gegenteil "aufpassen, nicht in einen Authentizitäts-Fetischismus zu verfallen". Sandra Kegel zeigte sich "nicht sicher, ob es sich dabei nicht um eine Kunstsprache handelt". Stefan Gmünder spürte Sympathie für den Text, der ihn an die eigene Legasthenie seiner Kindheit und an 20 Jahre deutsche Rechtschreibreform erinnere.
Juri Steiner nannte den Text "teuflisch-charmant", Hildegard Keller gratulierte Klaus Kastberger, dass er mit seiner Einladung von Gardi "eine Tellermine auf das sichere Gelände der Literatur" eingebracht habe. Der so Angesprochene sah in dem Text eine "extreme Untersuchung von Fragen von Identität". In den Bachmann-Preis-Statuten werde nach deutschen Texten verlangt, nicht nach in korrektem Deutsch geschriebenen - "und Deutsch war's ja."
Die 1944 in Frankreich geborene und die Hälfte des Jahres bei Aachen lebende Deutsch-Französin Sylvie Schenk las danach einen Auszug aus ihrem in Kürze im Hanser Verlag erscheinenden Roman "Schnell, dein Leben". Es sind Erinnerungen an das "kleine Mädchen der fünfziger Jahre", das lieber ein Junge gewesen wäre. "Deine moralischen Prinzipien inhalierst du in der katholischen Schule. Das Gute und das Böse", heißt es über das Aufwachsen, in dem erste Natur- und Leseerfahrungen ebenso wichtig sind wie die Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Familie und des Landes.
Stefan Gmünder zeigte sich von diesem "Zwiegespräch mit sich selbst" und der "Sanftheit des Blicks" beeindruckt. Konträr Meike Feßmann, die einen eigenen Erzählton vermisste. Ihrem Urteil "Wie Schnipsel aus dem Geschichtsbuch" konnte sich auch Klaus Kastberger anschließen, der den Text "sehr erwartbar" nannte. "Eine spürbare Leidenschaft für die sprachliche Gestaltung" dieser Lebensrückschau, fand Hildegard Keller in dem mitunter "preziösen" Text. Sandra Keller fand Stärken wie Schwächen, Juri Steiner ortete einen "diskreten Charme der Bourgeoise" und gelangte assoziativ von dort zu Louise Bourgeois. Hubert Winkels, der Schenk eingeladen hatte, zeigte sich fasziniert vom "Großartigen im Einfachen".
Den Abschluss der Lesungen machen am Samstag, Ada Dorian, die in London geborene Sharon Dodua Otoo, Astrid Sozio sowie als Letzter der Schweizer Dieter Zwicky. Der Bachmann-Preis und die weiteren Preise werden am Sonntag vergeben.
(S E R V I C E -)
(Quelle: salzburg24)