Thomas Roithner geben vor allem die vielen offene Fragen beim Thema EU-Armee zu denken. So sei bislang nicht geklärt, welche Ausmaße eine europaweit abgestimmte Sicherheitspolitik annehmen kann: "Wie genau soll diese Armee aussehen? Welche Aufgaben soll eine solche Armee erfüllen? Soll sie eine Doktrin bekommen? Wie wird mit Atomwaffen umgegangen? Es gibt so viele offene Fragen und wir beschäftigen uns sehr oberflächlich damit im Sinne von ‚wollen wir das, Ja oder Nein?‘"
EU: Keine einheitliche außenpolitische Haltung
Zudem kritisiert der Friedensforscher, dass die Europäische Union in vielen Bereichen keine einheitliche außenpolitische Haltung habe. Dies zeige sich im Umgang mit den Russland-Sanktionen oder bei der Anerkennung Palästinas. "Wenn die EU also sagt, wir wollen eine Außenpolitik aus einem Guss, dann muss man sich überlegen, ob man hier kompromisslos hinter den Menschenrechten steht oder es eher um die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen geht", so Roithner. Die EU ist als Waffenexporteur mit 27 Prozent am weltweiten Markt immerhin die Nummer zwei hinter den USA.

Fokus auf militärische Konfliktbewältigung
Zudem liege der Fokus der Union bei internationalen Krisen zu stark auf militärischen Einsätzen, wodurch die zivile Krisenprävention und Konfliktbewältigung hinten angestellt würden. Dieses Ungleichgewicht würden die Auslandseinsätze weiter veranschaulichen. Roithner: "Bei den EU-Gipfeln nach dem Kosovo-Krieg 1999 wurden beispielsweise 60.000 europäische Soldaten beschlossen, während nur 5.000 zivile Helfer zur Verfügung stehen sollten." Diese enorme Asymmetrie habe sich bei weiteren EU-Auslandseinsätzen ab 2003 fortgesetzt.
EU-Armee: Enorme Fortschritte seit Brexit
Laut Roithner habe es seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 bei dem Projekt EU-Armee enorme Fortschritte gegeben. So seien Auslandseinsätze und gemeinsame Rüstungsprojekte ausgeweitet worden: "Wir haben im nächsten EU-Haushalt einen Rüstungsfond, der 13 Mrd. Euro stark ist. Hier gibt es 34 Militärprojekte, in denen es um Kampfhubschrauber, eine Euro-Drohne, Artillerie und Geheimdienste geht“, gibt der Friedensforscher an.
"Sind auf Weg zur EU-Armee und niemand hat es bemerkt"
Ebenfalls im Juni 2016 hat sich die Europäische Union zudem auf die "Globalstrategie" geeinigt. Darin festgehalten sind unter anderem gemeinsame Maßnahmen im Bereich Sicherheit und Verteidigung. "Seither wurde diese Globalstrategie mit riesen Schritten umgesetzt. Das Thema Sicherheitspolitik beschäftigt die EU seit 20 Jahren. So schnell wie nun ging es aber noch nie. Ich glaube daher, dass wir politisch schon auf dem Weg zur EU-Armee sind und niemand hat es bemerkt", sagt der Friedensforscher.
In der "Ständig strukturierten Zusammenarbeit" (SSZ) der EU engagieren sich Staaten auf freiwilliger Basis militärisch: "Jene Staaten, die politisch gewillt sind, beim Militär ein schnelleres Tempo zu gehen, die gehen voran, während andere regelkonform aus der SSZ abgekoppelt werden. Somit geben die Kerneuropa-Staaten, die von diesem Projekt ohnehin am meisten profitieren, in der Sicherheitspolitik auch wieder den Ton an", betont der Wissenschafter.
"Vertrauen wieder herstellen"
Im Interview spricht Roithner von einem massiven Vertrauensverlust in internationalen Beziehungen. Gestärkt werden sollten deshalb Foren wie die "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE), bei der auch alle Staaten vertreten sind: "Wir müssen unbedingt versuchen, dieses Vertrauen wieder ein Stück weit herzustellen. Leider aber wird gerade genau das Gegenteil getan und Abkommen wie der INF-Vertrag oder der Atom-Deal mit dem Iran aufgekündigt“, so Roithner. Der Friedensforscher spricht sich daher dafür aus, nationale Interessen hinten anzustellen und Staaten, Organisationen und Wissenschafter an einen Tisch zu holen, um die zivile Konfliktbewältigung voranzutreiben.
Weiterführende Artikel zum Thema EU-Armee:
- Braucht Europa eigene Streitkräfte?
- Militärkommandant Anton Waldner über die Formen einer EU-Armee
- EU-Armee trotz Neutralität?
- So steht es um die politische Bereitschaft
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