Einmal mit den Fingernägeln quer über die Schultafel kratzen – na, bei wem haben sich die Nackenhaare gesträubt? Vermutlich bei vielen. Das ist bei unangenehmen Geräuschen nichts Unübliches. Bei Menschen, die unter Misophonie leiden, sieht das aber anders aus. Bei ihnen lösen alltägliche Geräusche – wie kauen, atmen oder das Klicken mit der Maus – Ekel, Panik oder sogar Aggressionen aus. Sarah aus Hallein ist eine Betroffene, uns hat die 32-Jährige am Sonntag erzählt, wie sich Misophonie bei ihr auswirkt und warum sie sich jahrelang alleingelassen fühlte.
Misophonie ist eine neurologische Störung, bei der bestimmte Geräusche – meist alltägliche wie Kauen, Schlürfen oder das Tippen auf der Tastatur – extreme Reaktionen wie Ekel, Wut oder Panik auslösen können.
Lautstärke nicht zwingend ausschlaggebend
Es sind die alltäglichen Geräusche, die Sarah auf die Palme bringen. „Das schlimmste sind Essensgeräusche. Nicht nur schmatzen, sondern einfach alles daran“, meint die sie. Allerdings nur bei anderen, wenn sie selber isst, habe sie das nicht. „Furchtbar ist auch, wenn jemand die Nase hochzieht oder sich ein Geräusch ständig wiederholt“, nennt Sarah als weitere Bespiele.
Diese Überempfindlichkeit von einzelnen Geräuschen sei unabhängig von der Lautstärke. „Es kann auch ein ganz leises Geräusch sein, aber es macht mich dann wahnsinnig. Wenn zum Beispiel jemand einen Kaugummi kaut, hört es sich für mich an, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzen“, berichtet die Halleinerin.
Aggression und Panik
Der Begriff „Misophonie“ setzt sich aus den griechischen Wörtern „Miso“ für Hass und „Phonia“ für Geräusche zusammen. Wörtlich bedeutet das also der „Hass auf Geräusche“. Das klingt sehr aggressiv. Wie reagiert Sarah? „Es ist unterschiedlich. Wie stark ich reagiere, hängt von meinem Stresslevel ab. Wenn ich allgemein eine Phase habe, in der viel los ist, merke ich, dass ich dahingehend auch empfindlicher bin.“
Konkret seien die Geräusche für Sarah oft irritierend, manchmal steige ihr auch der Puls und sie stehe kurz vor einer Panikattacke. „Ich habe dann das Gefühl, sofort aufstehen und gehen zu müssen, weil ich es nicht mehr packe. Am liebsten würde ich der Person gegenüber dann eine reinhauen“, beschreibt die 32-Jährige. Die Reaktionen reichen also von Unwohlsein, über angehende Panikattacken bis hin zu aggressivem Verhalten, in dem „man sich selbst nicht wiedererkennt“.
Diagnose blieb lange aus
Misophonie hat sich bei Sarah im Alter von zwölf Jahren entwickelt. „Es hat angefangen, dass ich nicht mehr mit meiner Familie gleichzeitig essen konnte. Ich habe dann immer alleine gegessen“, erinnert sich die 32-Jährige. Auch im Internat konnte sie nie mit anderen essen.
Die Diagnose blieb trotz vieler Besuche bei verschiedenen Ärzt:innen und Therapeut:innen jahrelang aus. „Irgendwann habe ich dann eine gute Therapeutin gefunden, die das zumindest einordnen konnte. Wirklich helfen konnte sie bisher aber nicht“, zeigt sich Sarah betrübt. Im Alltag habe sie immer spezielle Kopfhörer dabei, die nicht nur Musik spielen, sondern auch Geräusche dämpfen.
Hilfe für Misophonie-Betroffene
Auch bei der Recherche als Journalistin fällt auf: Es ist schwierig, Expert:innen zu dem Thema zu finden. Weder angefragte Ärzt:innen noch Forschende konnten viel zur Misophonie sagen. Einzig ein psychotherapeutischer Heilpraktiker aus Deutschland, Andreas Seebeck, war bislang für ein Interview mit SALZBURG24 bereit. Er beschäftigt sich seit Jahren damit und warnt: „Oft wird Misophonie wie eine Angst- oder Zwangsstörung mit Expositionsverfahren behandelt. Dabei werden Betroffene ihren Trigger-Geräuschen massiv ausgesetzt. Das führt aber genau zum Gegenteil.“
Medizinisch gesehen gibt es bislang keine standardisierten Kriterien, die Misophonie offiziell als Krankheit bezeichnen können. Seit dem 21. Jahrhundert wird international daran geforscht. Bis eine anerkannte Therapie gegen die „Wut im Ort“ entwickelt wird, kann es demnach noch dauern.
(Quelle: salzburg24)