Befürchtet wird so zum Beispiel, dass Russland die Lieferung westlicher Kampfpanzer und Kampfflugzeuge offiziell als Kriegseintritt werten könnte und dann militärische Vergeltungsmaßnahmen ergreift. Waffensysteme dieser Art wurden bisher nicht in die Ukraine geliefert.
In Deutschland hatten zuletzt Aussagen der Parlamentarischen Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, Siemtje Möller (SPD), für Diskussionen gesorgt. Sie sagte am Sonntag in der ZDF-Sendung "Berlin direkt" zu Waffenlieferungen, es sei innerhalb der NATO festgehalten, "dass keine Schützen- oder Kampfpanzer westlichen Modells geliefert werden".
Keine Kampf- oder Schützenpanzer für Ukraine
Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU) kritisierte daraufhin am Mittwoch, dass die Regierung eine solche Absprache bei den Beratungen im Bundestag zur Lieferung schwerer Waffen nicht erwähnt habe. "Entweder liegt das an einer skandalösen Unfähigkeit, die gepaart ist mit Schlamperei und Unwissenheit. Oder aber, und das wäre ein veritabler Skandal, der Deutsche Bundestag und die Öffentlichkeit werden mit immer neuen Pseudobegründungen hinter die Fichte geführt, um eine systematische Verzögerungsstrategie zu tarnen", sagte er dem Portal "Focus Online". Der Bundestag hatte sich Ende April in einem gemeinsamen Antrag von Union und Ampel-Koalition für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen.
Aus der SPD wurde die Existenz einer informellen Verabredung in der NATO bekräftigt, unabgesprochen keine schweren Kampf- oder Schützenpanzer westlicher Bauart zu liefern. "Darüber wurde der Verteidigungsausschuss Mitte Mai vollumfänglich informiert", betonte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Hellmich, der Deutschen Presse-Agentur.
Hochrisiko-Szenario skizziert
Ein NATO-Sprecher äußerte sich am Mittwoch nur allgemein zum Thema. Er verwies darauf, dass alle Lieferentscheidungen am Ende Sache der einzelnen Mitgliedstaaten seien. Diese halten sich nach Angaben von Diplomaten bisher an informelle Absprachen - auch weil sie sonst am Ende fürchten müssten, im Fall eines russischen Angriffs nicht die volle Unterstützung der Bündnispartner zu bekommen. Aus diesem Grund soll zum Beispiel Polen vor mehr als zwei Monaten auf die Lieferung von MiG-29-Kampfjets sowjetischer Bauart an die Ukraine verzichtet haben.
Der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, Tod D. Wolters, hatte im März zu dem Thema erklärt, die Weitergabe von MiG-29 könne nach Einschätzung von Geheimdiensten von Moskau missverstanden werden und in einer Eskalation Russlands mit der NATO resultieren. Dies sei ein Hochrisiko-Szenario, sagte der Vier-Sterne-General.
Deutschland liefert schwere Waffen
Indirekt bestätigt wurden Absprachen in der Vergangenheit unter anderem von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Dieser sagte im März nach einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten zum Thema Waffenlieferungen: "Es gibt eine Grenze, die darin besteht, nicht Kriegspartei zu werden." Diese Grenze werde von allen Alliierten geteilt und deswegen liefere bisher niemand Waffen wie Flugzeuge.
Die deutsche Regierung hat bisher die Lieferung zweier Arten von schweren Waffen in die Ukraine öffentlich zugesagt: Gepard-Luftabwehrpanzer und Panzerhaubitzen 2000 (schwere Artilleriegeschütze). Die Ukraine fordert von Deutschland aber auch die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern für die Verteidigung gegen die russischen Angreifer. Schützenpanzer sind kleiner und leichter als Kampfpanzer. Die Bundeswehr hat Kampfpanzer vom Typ Leopard und Schützenpanzer vom Typ Marder. Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat angeboten, gebrauchte Exemplare beider Modelle direkt in die Ukraine zu liefern. Über eine formelle Entscheidung der Regierung darüber ist nichts bekannt.
NATO steht Deutschland zur Seite
Die NATO nimmt Deutschland in Schutz. "Deutschland hat der Ukraine Tausende von Waffen zur Verfügung gestellt, darunter Flugabwehrraketen und Panzerabwehrraketen", teilte ein Sprecher am Mittwoch mit. Zudem begrüße man auch die deutsche Entscheidung, der Ukraine Artilleriewaffen und Flugabwehrpanzer zur Verfügung zu stellen.
In Bündniskreisen wurde vor diesem Hintergrund auch betont, dass die Risikoanalysen zu Waffenlieferungen ständig aktualisiert werden. Demnach ist es nicht ausgeschlossen, dass irgendwann einmal doch auch westliche Kampfpanzer und Kampfjets in die Ukraine geliefert werden.
Türkei erwartet konkrete Schritte von Nordländern
Die Türkei hat indes nach einem Treffen mit Vertretern aus Schweden und Finnland ihre Forderungen für eine Zustimmung zum NATO-Aufnahmeprozess erneuert. Man habe die Sicherheitsbedenken der Türkei noch einmal deutlich gemacht und erwarte diesbezüglich konkrete Schritte, sagte Präsidialberater Ibrahim Kalin nach einem Treffen der Delegationen in Ankara. Andernfalls könne der Prozess nicht vorankommen.
Die skandinavischen Länder sollten etwa gegen Propaganda und Finanzierung von "Terrororganisationen" wie die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die syrische Kurdenmiliz YPG vorgehen, sagte Kalin. Die Türkei blockiert derzeit als einziges NATO-Mitglied öffentlich den Beginn des Aufnahmeprozesses der beiden nordischen Länder in das Verteidigungsbündnis.
Diskussion um "Terrororganisationen"
Ankara begründet seine Haltung mit der angeblichen Unterstützung Finnlands und Schwedens von "Terrororganisationen" und bezieht sich dabei auf die PKK, die syrische YPG und die Gülen-Bewegung. Während die PKK in den USA, der EU und der Türkei auf der Liste der Terrorgruppierungen steht, gilt das nicht für die YPG und die Bewegung des im US-Exil lebenden türkischen muslimischen Predigers Fethullah Gülen. Letztere macht die Türkei etwa für den Putschversuch 2016 verantwortlich. Die YPG - Verbündete der USA im syrischen Bürgerkrieg - sieht Ankara als Ableger der PKK.
Die schwedische Regierung wies den türkischen Vorwurf der Unterstützung von Terrororganisationen zurück. "Wir schicken natürlich kein Geld an Terrororganisationen und auch keine Waffen", sagte Ministerpräsidentin Magdalena Andersson auf einer Pressekonferenz in Stockholm am Mittwoch.
Baerbock zeigt sich zuversichtlich
Nach einer türkischen Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG in Syrien 2019 hatten unter anderem Schweden, Finnland und Deutschland Waffenexporte an die Türkei beschränkt. Kalin forderte nun erneut die Aufhebung der Beschränkungen. Finnland und Schweden wollen infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in die westliche Militärallianz.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hatte sich zuvor zuversichtlich gezeigt, dass Schweden und Finnland trotz Einwänden aus Ankara bald in die NATO aufgenommen werden können. "Wir werden Finnland und Schweden in unserer Allianz willkommen heißen", so die Grünen-Politikerin am Mittwoch im norwegischen Kristiansand nach einem Treffen mit ihren Amtskolleginnen aus Norwegen und Litauen beim Ostseerat. Sie glaube, die Türkei werde ihre Bedenken gegen den NATO-Beitritt bald aufgeben.
Finnland und Schweden vor NATO-Beitritt
Schweden und Finnland seien ohnehin schon längst Teil der Militärallianz, ohne im Besitz einer formellen Mitgliedschaft zu sein, sagte Baerbock. "Wir alle haben legitime Sicherheitsinteressen. Es ist aber allen in der NATO genauso klar, dass das ein wichtiger Moment in der Geschichte ist und wir eine gemeinsame Verantwortung tragen", sagte sie. Die Allianz werde mit dieser Erweiterung nur noch stärker.
Auch Norwegens Außenministerin Anniken Huitfeldt zeigte sich optimistisch, dass die Bedenken der türkischen Regierung ausgeräumt werden können. "Es ist sehr wichtig für Norwegen, Schweden und Finnland in die NATO zu lassen, und ich denke, dass diese Frage gelöst werden kann", sagte Huitfeldt.
(Quelle: apa)