Rund 48 Stunden nach dem Amoklauf an einer Schule in Graz haben Polizei und Staatsanwaltschaft am Donnerstag die aktuellen Ermittlungsergebnisse bekannt gegeben. Demzufolge hat der 21-jährige Täter um 9.43 Uhr mit einem Rucksack, in dem sich seine Waffen und Munition befanden, den Haupteingang des BORG Dreierschützengasse betreten, ging in eine Toilettenanlage im dritten Stock und stattete sich dort professionell aus und startete seinen siebenminütigen Amoklauf.
Zu dem Zeitpunkt befanden sich 350 bis 400 Schülerinnen und Schüler in dem Gebäude, wie Michael Lohnegger, Leiter des Landeskriminalamts Steiermark, bei einer Pressekonferenz ausführte. Der bisher noch nie polizeilich in Erscheinung getretene Mann schoss daraufhin mit der Glock 19 und einer abgesägten Schrotflinte wahllos auf Menschen. Am Ende waren zehn Menschen tot, neun Schülerinnen und Schüler und eine Lehrerin. Die Lehrkraft war dem Steirer von früher bekannt. Die Frau unterrichtete den Mann damals. Er hatte vor drei Jahren die Schule abgebrochen, nachdem er die sechste Klasse wiederholen musste.
Was wir über den Ablauf wissen
Bei seinem Amoklauf schoss der 21-Jährige auch auf eine verschlossene Tür, um in ein Klassenzimmer zu gelangen und dort weiterhin wahllos auf darin befindliche Personen zu schießen. Der Täter bewegte sich hauptsächlich im zweiten und dritten Stockwerk, so Lohnegger. Ausgerüstet war er u.a. mit einem Waffengürtel und einem Headset. Derzeit wird noch ermittelt, ob er damit mit anderen möglichen Mittätern in Kontakt war.
Zuerst ging er vom dritten in das zweite Obergeschoß und eröffnete dort das Feuer. Er schoss in einer fünften Klasse wahllos auf Menschen. Dann ging er wieder in das dritte Obergeschoß, um dort in einer siebenten Klasse, die im Raum einer achten Klasse war, weiterzumachen. Dort hatten sich die Schüler aber bereits eingesperrt. Der Täter schoss daraufhin mehrmals auf das Türschloss, um in die Klasse zu gelangen und dort wieder wahllos auf Menschen zu schießen, erklärte der LKA-Leiter.
Anschließend ging er zurück in die Toilette und beging Suizid. Das war um 10.07 Uhr. Die erste Streife, die um 10.06 Uhr bei der Schule eintraf, nahm diesen Schuss nicht wahr. Lohnegger betonte, dass der Täter wahllos auf die Schüler geschossen hat. Es handelte sich offenbar nicht um ehemalige Klassenkameraden und es gibt auch keine Hinweise darauf, dass er gezielt auf Mädchen oder Schüler mit Migrationshintergrund geschossen hat.
Ermittlungen zu möglichen Mittätern
Derzeit werde noch ermittelt, ob der 21-Jährige mit seinem Headset mit anderen Personen verbunden war. "Grundsätzlich wird wegen mehrfachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes ermittelt. Nachdem der Schütze tot ist, liegt der Fokus darauf herauszufinden, ob es mögliche Mittäter oder Mitwisser gibt", sagte Arnulf Rumpold, Sprecher der Staatsanwaltschaft Graz. Es gelte daher, den Tatablauf und die Motivlage genau herauszufinden. Die Einholung eines ballistischen Sachverständigengutachtens sei in die Wege geleitet worden. Die bei einer gerichtlich bewilligten Hausdurchsuchung an der Adresse des Täters sichergestellten Datenträger würden ausgewertet. Daraus erhoffe man sich weitere Rückschlüsse, sagte Rumpold gegenüber der APA.
Detaillierter Ablaufplan und Abschiedsbrief gefunden
Bei der Hausdurchsuchung wurde ein minutiöser Ablaufplan gefunden. Der Täter hatte sich genau darüber informiert und sich Gedanken gemacht, wann er sich welches Stockwerk vornimmt, hieß es von den Ermittlern. Der Fund lasse aber keinen Rückschluss zu, warum der 21-Jährige genau am Dienstag die Tat vollzog.
Bildergalerien
Der Täter hatte laut Lohnegger ausreichend Munition bei sich und hätte sein Vorhaben noch viel länger ausführen können. Bei der Hausdurchsuchung wurden ein Abschiedsbrief- und ein Abschiedsvideo für seine Familie gefunden. Darin habe er sich für seine Tat entschuldigt und allen gedankt. Einen Anhaltspunkt für ein Motiv habe er aber nicht geliefert, so Lohnegger. Er habe auch keine emotionale Bewegung gezeigt, die interpretierbar wäre.
Die gefundene Rohrbombe hatte laut den Ermittlern alle Komponenten einer funktionierenden Bombe. Allerdings war der gefundene Sprengsatz nicht funktionsfähig.
Täter legal im Besitz von Waffen
Laut Lohnegger hatte der Mann im März den psychologischen Test für den Erhalt einer Waffenbesitzkarte absolviert. Anfang April kaufte er sich bei einem Waffenhändler in Graz legal die Schrotflinte, Ende Mai dann bei einem anderen Grazer Händler die Glock. Mitte Mai hatte er die Waffenbesitzkarte erhalten. Ab Mitte März sei der 21-Jährige fünf Mal mit einer Leihwaffe legal für Schießübungen bei einem Grazer Sportschützenverein gewesen, sagte Lohnegger.
Als einer der ersten sei bereits ein naher Freund des Täters vernommen worden. Demnach soll der Mann introvertiert und extrem zurückgezogen gelebt haben. Er soll nicht am Leben in der realen Welt teilgenommen haben, dafür aber umso mehr in der virtuellen Welt unterwegs gewesen sein. Dort spielte er laut den Ermittlern online Ego-Shooter-Spiele. Welche genau, konnte noch nicht gesagt werden. Das werde erst ausgewertet. Fakt sei aber, dass er sich in dieser Community ausgetauscht habe und dort Kontakte pflegte. Ob es dort auch Mitwisser gibt, werde erst ermittelt.
Völlig unklar ist noch, warum er den Amoklauf in der Schule beging. Während seiner Zeit in der Bildungseinrichtung sei er nicht negativ aufgefallen und es habe keinerlei Probleme mit ihm gegeben. Es gibt bisher auch keine Hinweise darauf, dass er irgendwem gegenüber Ärger oder Unmut über die Schule geäußert hat.
Obduktionen in Graz und Salzburg
Indessen wurden die insgesamt elf Toten von der Gerichtsmedizin in Graz und Salzburg obduziert. Sämtliche Verletzungen wurden genau dokumentiert, Kleidung sichergestellt. Die Polizei geht davon aus, dass der Täter von seinem Wohnort in Graz-Umgebung mit dem Zug nach Graz gefahren ist und von dort dann zu Fuß zur Schule ging, um dort seinen Amoklauf zu starten. Gesichert sei das noch nicht. Man müsse erst den exakten Weg von seiner Wohnung zur Schule nachvollziehen. Fakt sei, dass der Mann zuletzt eine berufliche Ausbildung absolvierte. Er hatte die fünfte und sechste Klasse des BORG Dreierschützengasse besucht, brach die Schule aber ab, nachdem er die sechste Klasse wiederholen musste. Das war vor drei Jahren.
Für die weiteren Erhebungen hat das Landeskriminalamt die eine 16-köpfige Ermittlungsgruppe namens "Luctus" zusammengestellt. Der Name ist auf das lateinische Wort für "Trauer" zurückzuführen.
Schulpersonal reagierte laut Behörden vorbildlich
Lohnegger betonte, dass die Schule beziehungsweise das Schulpersonal vorbildlich reagiert habe - "wie vorgesehen". Es gab Anweisungen nach den ersten Schüssen und es sei sofort professionell reagiert worden. So wurden beispielsweise die Klassenzimmer versperrt und verbarrikadiert. Auch die Evakuierung sei gut verlaufen. "Ohne die Hilfe der Schule wären wir langsamer gewesen", unterstrich der LKA-Leiter.
Befragungen und Datensichtungen laufen
Die Ermittler waren Donnerstagvormittag weiterhin mit der Tatrekonstruktion beschäftigt. Zudem werden weiter Daten ausgewertet. Außerdem hieß es seitens der Landespolizeidirektion Steiermark, dass weiterhin Trittbrettfahrer die Einsatzkräfte fordern würden. Parallel dazu werden Befragungen durchgeführt - sowohl im Umfeld des Täters als auch bei den Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonal und anderen Personen, die sich am Dienstag in oder um die Schule aufgehalten haben. Die Zahl der noch zu befragenden Personen liegt laut Polizei im dreistelligen Bereich.
Hochgeladenes Material auf Upload-Plattform
Die Polizei hatte noch am Dienstag eine Upload-Plattform für Video und Fotos von Zeugen bereitgestellt. Auf dieser sei bereits einiges an Material zum Sichten eingelangt, sagte Yorgun. Mit dabei seien etwa auch Videos aus den Klassenräumen. Diese Daten würden nun ebenfalls nach und nach gesichtet. Zeugen können weiterhin ihre Videos und Fotos unter https://upload.bmi.gv.at/ hochladen
Helmut-List-Halle weiter Anlaufstelle nach Amoklauf in Graz
Auch am Donnerstag ist die als Ort der Begegnung und der Hilfeleistung bereitgestellte Helmut-List-Halle geöffnet. Am Mittwoch wurden dort laut Bildungsministerium bis zum späten Nachmittag über 200 Kinder und Jugendliche psychologisch betreut. Auch Eltern waren vor Ort und wurden von Expertinnen und Experten beraten. Insgesamt waren 30 Schulpsychologinnen und Schulpsychologen aus der Steiermark sowie anderen Bundesländern und 46 Personen der Kriseninterventionsteams im Einsatz.
Die List-Halle soll auch in den nächsten Tagen zur Verfügung stehen. Das Beratungs- und Betreuungsangebot der Bildungsdirektion Steiermark wird auch am Wochenende fortgeführt. Wann das BORG Dreierschützengasse wieder geöffnet wird, ist noch nicht klar - keinesfalls aber noch in dieser Woche.
(Quelle: apa)