Nach den Missbrauchs- und Gewaltvorwürfen gegen einzelne Einrichtungen von SOS-Kinderdorf stellt sich die Organisation völlig neu auf. Es soll "kein kleines Update, sondern ein umfassender Neustart der Organisation erfolgen", sagte Geschäftsführerin Annemarie Schlack im APA-Interview. Indes wird die Einrichtung von einem weiteren Schlag getroffen: Gründer Hermann Gmeiner steht im Verdacht, an zumindest acht Burschen sexuelle und gewalttätige Übergriffe begangen zu haben.
SOS-Kinderdorf bestätigte der APA acht intern dokumentierte und anerkannte Opferschutzfälle im Zusammenhang mit dem Gründer. Die Vorwürfe beziehen sich auf vier Standorte in Österreich in einem Zeitraum aus den 1950er- bis 1980er-Jahren. Die Betroffenen hatten sich im Rahmen des Opferschutzverfahrens bei SOS-Kinderdorf gemeldet, das wiederum ihre Schilderungen geprüft hat. Schlack unterstrich, dass es sich dabei nicht um gerichtliche Urteile oder forensische Überprüfungen handle, allerdings waren die Angaben so glaubhaft, dass man den Betroffenen bis zu 25.000 Euro zahlte und Therapiestunden übernahm.
Nicht zuletzt wegen dieser Fälle will SOS-Kinderdorf auch mit seinem überholten "Heile-Welt-Image" rigoros aufräumen. Schon seit 2010 gibt es kaum noch "Kinderdorffamilien", die meisten der 1.800 Kinder und Jugendlichen werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Wohngemeinschaften von acht bis neun Personen betreut. "Wir müssen aber anerkennen, dass das System der Vergangenheit auch Spuren in der Gegenwart hinterlassen hat. Von dieser Vergangenheit trennen wir uns jetzt", sagte Schlack. Strukturen der Organisation, in denen Übergriffe begangen oder vertuscht werden können, sollen als Ganzes völlig neu ausgerichtet werden. "Schon 2026 wird SOS-Kinderdorf anders aussehen als heute", unterstrich Schlack.
Neuaufstellung auf zwei Säulen
SOS-Kinderdorf startet demnach einen "umfassenden, extern begleiteten Organisationsentwicklungsprozess". Ziel sei, Verantwortung, Kontrolle und Transparenz auf allen Ebenen dauerhaft zu sichern und SOS-Kinderdorf als moderne Kinderschutzorganisation "mit zeitgemäßen Strukturen und Standards neu aufzustellen". Ein besonderer Fokus liege auf der aktiven Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren Erfahrungen und Ideen die Basis für den Wandel bilden sollen. Der Prozess umfasse auch die Entwicklung eines neuen Leitbilds sowie "einen umfassenden Kultur-und Führungsprozess".
Für die interne Durchleuchtung der Organisation werde extra ein Team unter Leitung eines Sonderbeauftragten für Aufarbeitung eingesetzt. "Aufgabe ist die vollständige Bearbeitung aller eingelangten und nicht vollständig aufgearbeiteten historischen Fälle, inklusive aktiver Archiv-Recherchen und Dokumentationsprüfung", so die Geschäftsführerin.
Kein aktueller neuer Verdachtsfall
Derzeit liegt bei SOS-Kinderdorf kein neuer Missbrauchs-Verdachtsfall vor. Es gibt aber aktuell 67 Meldungen, die über die diversen Andockstellen an die Organisation herangetragen wurden. Da das Spektrum dieser Eingänge sehr weit ist, muss sich daraus nicht zwingend ein neuer Fall ergeben, hieß es. Die Geschäftsführerin rief aber etwaige betroffene Personen dazu auf, sich bei SOS-Kinderdorf zu melden - auch im Fall Gmeiner.
Schlack berichtete von Anfeindungen gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von SOS-Kinderdorf. Die Geschäftsführerin unterstrich, dass diese im Regelfall ihre Tätigkeit Tag für Tag "hochprofessionell in einem oft sehr schwierigen Umfeld" verrichten.
Ein Bericht der Wochenzeitung "Falter" über Vorwürfe gegen das SOS-Kinderdorf am Standort in Moosburg in Kärnten hatte Mitte September die Missbrauchscausa ausgelöst. Kurze Zeit später kamen auch Vorwürfe gegen weitere Kinderdörfer ans Licht. Mittlerweile ermitteln die Staatsanwaltschaften in Klagenfurt, Innsbruck sowie Salzburg aufgrund der Vorwürfe.
(Quelle: apa)