Spätestens seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und der vom damaligen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Jahr 2022 ausgerufenen „Zeitenwende“ hat die militärische Verteidigung in Europa wieder an Bedeutung dazugewonnen. Auch in Österreich wird aufgerüstet – aktuell werden etwa neue Panzerfahrzeuge, Luftabwehrsysteme und Drohnen angeschafft. Auch über die Neutralität wird wieder diskutiert. Bei insgesamt drei Bürgerforen – eines davon am 18. Oktober in Salzburg – soll bis Ende des Jahres die österreichische Sicherheitsstrategie überarbeitet werden. NEOS-Außenministerin Beate Meinl-Reisinger und Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) erklärten im Vorfeld, dass man zur Erkenntnis gelangt sei, dass die Neutralität allein Österreich nicht schützen könne. Damit steht der Beitritt zu einem militärischen Bündnis im Raum.
Vergangene politische Diskussionen über die österreichische Neutralität verliefen oftmals schnell im Sand, nun scheint sie wieder breiter debattiert zu werden. „Wir sehen Bewegung in der Sache. Das ist der neuen Situation in Europa mit Russland und dem Ukraine-Krieg geschuldet. Man geht nicht mehr davon aus, dass man sich um Frieden einfach nicht kümmern muss“, ordnet der Salzburger Politikwissenschafter Eric Miklin im Gespräch mit SALZBURG24 am Donnerstag die laufende Debatte ein.
Auseinandersetzung mit Neutralität scheitert an öffentlicher Meinung
Bei den NEOS als klar an Europa orientierter Partei gibt es schon seit jeher Diskussionen über die österreichische Neutralität. Bei der ÖVP gab es unter Wolfgang Schüssel Versuche, gesellschaftliche und politische Debatten über die Neutralität anzustoßen: „Diese Vorstöße auf höchster Ebene sind aber immer schnell an der öffentlichen Meinung gescheitert. Man hat sich nicht getraut, das weiterzuverfolgen gegen eine Bevölkerung, die immer sehr klar für eine eigenständige Verteidigung gestanden ist und immer noch steht.“
Mythos österreichische Neutralität?
Doch woher kommt dieses Festhalten an der Neutralität? Hier halte sich ein Irrglaube oder gar ein Mythos: „Ich glaube, das hat mit einem falschen Verständnis von Neutralität zu tun. Denn ich denke, die Bevölkerung interpretiert sie so, dass man sich nicht festzulegen braucht, wer gut und wer böse ist. Das ist bequem, denn man verscherzt es sich mit niemandem und wird selbst nicht angegriffen. Aber das ist nicht so, es geht um Bündnisneutralität und darum, nicht einzugreifen, wenn zwei sich streiten.“
Hinzukomme die Wahrnehmung, dass uns die Neutralität im Jahr 1955 die Freiheit von der UDSSR gebracht habe. „Es gab also dieses Sicherheitsgefühl. Zudem war auch die Schweiz neutral und hat den Zweiten Weltkrieg ohne Angriffe überlebt. Dass die Neutralität schützt, stimmt aber historisch überhaupt nicht. Norwegen war neutral und ist angegriffen worden“, so Miklin weiter. Für einen Aggressor könne die österreichische Neutralität geradezu als Einladung wirken. Man kann so ein westliches Land treffen, ohne die Reaktion eines Bündnisses erwarten zu müssen. Dass Österreich im Ernstfall beigestanden würde, hält Miklin für einen „totalen Trugschluss“.
Österreich als sicherheitspolitischer Nutznießer
Österreich entwickelte sich gerade nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einem sicherheitspolitischen Nutznießer. Großteils umgeben von NATO-Staaten gab und gibt es keine direkte Bedrohung. „Ich glaube, das ist auch der Grund, warum wir die Neutralität immer noch haben, etwa im Unterschied zu Staaten, die einer konkreten Bedrohsituation ausgesetzt sind“, führt der Politikwissenschafter aus. Er verweist hier auf Staaten wie Schweden oder Finnland, die an die russische Einflusssphäre grenzen.
Der Beitritt zu einem militärischen Bündnis könnte neben dem Beistand anderer Staaten auch die eigene Landesverteidigung aus finanzieller Sicht effizienter gestalten. „Eine Armee, die alle Bereiche der Kriegsführung schlagkräftig abdecken kann, macht alles schlecht oder es wird sehr kostspielig. Wenn man sich die militärischen Kompetenzen aufteilen kann, kann man finanziell effizienter verteidigen, als wenn man alles alleine machen muss“, so Miklin.
Bedrohungslage treibt Debatte um Neutralität an
Dass die Neutralität nun im Zuge eines Bürgerforums wieder breit diskutiert wird, hält Miklin für einen „ersten Schritt. Ich weiß aber nicht, ob man das durchhält. Es gibt jetzt schon Themen, bei denen es die großen Parteien nicht schaffen, eine klare Position zu beziehen, weil sie Angst haben, einen Teil ihrer Wählerschaft zu verlieren – etwa an die FPÖ.“ Für eine richtungsändernde Debatte fehle aktuell ein reales Bedrohungsszenario. „Historisch gesehen oder im Blick auf andere Staaten hat sich gezeigt, dass sich immer erst dann etwas geändert hat, wenn es eine tatsächliche Bedrohung gegeben hat“, so Miklin abschließend.