Mit eigenen Erfahrungen helfen

Neue Anlaufstelle für Menschen mit unsichtbaren Behinderungen

Graciella Pauger, stv. Obfrau des Vereins "unSICHTBAR", beim Interview in der SALZBURG24-Redaktion. 
Veröffentlicht: 28. August 2023 17:40 Uhr
Der Verein unSICHTBAR will österreichweit Menschen mit sogenannten unsichtbaren Behinderungen unterstützen – egal ob bei bürokratischen Fragen, in Form von Workshops, Vernetzung oder sonstiger Beratung. Das Besondere: Jeder und jede im fünfköpfigen Team hat selbst Kinder mit unsichtbaren Behinderungen und kann so die eigenen Erfahrungen einfließen lassen.

1,4 Millionen Menschen in Österreich haben eine Behinderung, teilt der Österreichische Behindertenrat mit. Jedoch sind nicht alle Behinderungen sichtbar. Dazu zählen etwa:

  • Autismus-Spektrum-Störung
  • Entwicklungsverzögerungen
  • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
  • Lese-Rechtschreib-Schwäche
  • Multiple Sklerose

Oftmals würden Menschen mit unsichtbaren Behinderungen von der Gesellschaft wegen ihres Benehmens vorverurteilt oder schlichtweg nicht berücksichtigt, prangert der Verein unSICHTBAR – gegründet im heurigen April – an. Dieser greift Betroffenen selbst und deren Angehörigen unter die Arme. An das fünfköpfige Team, das besonders in Salzburg und Oberösterreich aktiv ist, können sich Menschen aus ganz Österreich wenden. Wie das genau abläuft und wo es ihrer Meinung nach Handlungsbedarf gibt, erklärt die stellvertretende Obfrau Graciella Pauger im SALZBURG24-Interview.

"Andere vor zusätzlichem Stress bewahren"

„Wir sind alle Eltern von Kindern mit unsichtbaren Behinderungen. Wir wissen, wovon wir reden. Wir wissen, wie der Alltag sich mit herausforderndem Verhalten gestaltet. Die meisten Fragen betreffen den Bürokratiedschungel“, sagt Pauger. Dazu gehört u.a. das Ausfüllen von diversen Formularen, die bei verschiedenen Anlaufstellen angefordert und zurückgeschickt werden müssen. „Wir versuchen bestmöglich die Lücke zu füllen, die trotz vieler Vereine und Institutionen noch da ist. Das ist unsere Herzensangelegenheit, weil wir selbst so viel alleine kämpfen mussten. Wir wollen andere vor diesem zusätzlichen Stress bewahren.“

Alltagshürden für Menschen mit unsichtbarer Behinderung

Der Verein treibt außerdem einige Projekte an, die zur Inklusion beitragen sollen. Eines davon heißt „Worst Case Best Place“. Mitarbeitende in Krankenhäusern und Ambulanzen sollen im Umgang mit Behinderten sensibilisiert werden. Man werde zum Teil „nicht ernstgenommen, man wird nicht gehört, man wird als hysterisch degradiert. Irgendwann wird man dann einfach grantig“, schildert Pauger ihre eigenen Erfahrungen. „Wenn einem das Bauchgefühl sagt, dass etwas nicht passt, dann sollte man sich nicht scheuen, dem nachzugehen. Jeder kann Fehler machen. Wir wollen niemandem etwas ankreiden. Wir wollen helfen, damit es auch für das Personal leichter wird.“ Einige Möglichkeiten seien zum Beispiel, sich bei Bedarf ein paar Minuten mehr Zeit für Patient:innen mit Behinderung zu nehmen, den Raum etwas freundlicher zu gestalten, einen kleinen Rückzugsort zu schaffen oder gegebenenfalls die Eltern miteinzubeziehen. „Ein Miteinander und Kommunikation wären uns wichtig.“

Aber nicht nur im Gesundheitsbereich, sondern auch in anderen alltäglichen Situationen würden Menschen mit unsichtbaren Behinderungen mit ihrem ganz individuellen Verhalten oftmals auf Unverständnis stoßen, gibt die 37-Jährige zu bedenken. „Man muss sich schon einen Panzer zulegen.“ Als Beispiel nennt sie etwa ein größeres Kind, das in einem Buggy sitzt. „Wenn es recht eng wird oder beim Einkaufen viel los ist, fragen manche, warum es dort drinnen sitzen muss, wenn es doch schon alt genug ist, um zu gehen.“

Workshops und Seminare

Zudem werden wöchentlich Workshops von den fünf Ehrenamtlichen angeboten. Neben Hilfe bei der Bürokratie werden hier Themen wie Diagnose und Akzeptanz, das Lernen und Verstehen von Signalwörtern, barrierefreier Sommerurlaub, Bastelideen oder das Verhindern von Reizüberflutungen behandelt. Hinzu kommen elf Seminare pro Jahr, die von Expert:innen gehalten werden. Heuer steht zum Beispiel noch ein Kurs zum Thema Sinneswahrnehmung mit einer Sozialtrainerin und ein Seminar über Gebärdensprache mit einer Pädagogin für Kommunikation auf dem Plan. „Die Themen evaluieren wir immer in unserer Facebook-Gruppe. Um Geld zu sparen, Stress zu vermeiden und besonders Alleinerziehende unterstützen zu können, die niemanden für die Kinderbetreuung haben, finden die Termine online statt. So können wir auch mehr Menschen erreichen“, führt die Salzburgerin aus. Im Schnitt würden zehn bis 15 Teilnehmer:innen an den einzelnen Workshops teilnehmen. Im Mitgliedsbeitrag von 60 Euro pro Jahr sind diese Angebote bereits inbegriffen. Dennoch seien zusätzlich Gruppentreffen oder gemeinsame Aktivitäten möglich.

„Wenn wir nicht weiterwissen oder weiterhelfen können, vermitteln wir die Leute weiter zu Fachexperten. Wir sind Zivilexperten und eignen uns im Zuge der nächsten drei Jahre auch Fachexpertise an.“ Die Vision von unSICHTBAR sei es, in Zukunft selbst eine Beratungsstelle zu werden. „Wir wollen bestmöglich alle auffangen, die sich nicht verstanden oder nicht gut aufgehoben fühlen oder durch das Raster fallen“, gibt Pauger einen Ausblick.

unSICHTBAR fordert mehr Aufklärung

Der Verein fordert mehr Information und Aufklärung. Auch eine bessere Vernetzung der einzelnen Institutionen und Anlaufstellen untereinander, aber auch mit dem Dachverband der Selbsthilfegruppen Salzburg – bei dem auch unSICHTBAR Mitglied ist – sei wünschenswert. Und die Salzburgerin ergänzt: „Es kann uns alle jeden Tag treffen. Ob es ein Insektenstich ist, eine Medikamentenunverträglichkeit, ein Schlaganfall, ein Unfall. Vielleicht sollte sich die Gesellschaft damit ein bisschen mehr auseinandersetzen, dass ich morgen auch auf Hilfe angewiesen sein kann.“

Handlungsbedarf sieht unSICHTBAR zudem beim Einsatz diverser Fördergelder und der Evaluierung. „Es wird nicht bei den Leuten nachgefragt, sondern bei Institutionen, Reha-Einrichtungen oder in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Dabei könnten wir Eltern sagen, was wir brauchen“ist sich Pauger sicher. So gebe es zwar Tagesstätten zum Wohnen und Arbeiten. Diese seien aber erst ab 18 Jahren eine Option. „Aber was ist mit den Kindern davor?“ Gerade im jungen Alter sei es wichtig, die Selbstständigkeit zu fördern, damit die Kinder später im Idealfall weniger Betreuung brauchen.

Flyer NEU Aktuell 1.jpeg Verein unSICHTBAR

Pauger weist zudem darauf hin, dass man das Wort Behinderung ruhig aussprechen dürfe. „In der Öffentlichkeit wird das Wort Behinderung als Beschimpfung affirmiert, für das man sich schämen muss und dass man sich verstecken sollte. Das ist genau das Falsche. Geht alle raus! Umso mehr Stimmen wir haben, umso mehr können wir im System ändern. Es geht um den Zusammenhalt.“

Bildergalerien

Graciella Pauger, stv. Obfrau des Vereins "unSICHTBAR", beim Interview in der SALZBURG24-Redaktion. 
Graciella Pauger, stv. Obfrau des Vereins "unSICHTBAR", beim Interview in der SALZBURG24-Redaktion. 
Graciella Pauger, stv. Obfrau des Vereins "unSICHTBAR", beim Interview in der SALZBURG24-Redaktion. 

(Quelle: salzburg24)

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