"Rasende Paparazzi"

Salzburger Stadtspaziergang erstmals in weiblicher Hand

Um einen Einblick in das Leben an der Armutsgrenze zu geben, leitet zum ersten Mal eine Frau den sozialen Stadtspaziergang in Salzburg.
Veröffentlicht: 13. Juni 2023 14:08 Uhr
Zum 25-jährigen Jubiläum der Straßenzeitung Apropos lud Zeitungsverkäuferin Evelyne Aigner am Montagvormittag zum ersten Mal zu ihrem eigenen sozialen Stadtspaziergang ein. Offen und unverblümt erzählt sie uns von ihrem Leben an der Armutsgrenze, Mobbing, Bewährungsstrafen und wie viel ihr das Zusammenkommen mit Gleichgesinnten bedeutet.
Selma Alic

Evelyne Aigner hatte ein turbulentes Leben: Nachdem sie kurz nach ihrer Geburt in eine Pflegefamilie gekommen war, ist sie als Kind oft gehänselt worden. Als Teenager kam sie in Heime, aus denen sie immer wieder abhaute und schließlich geriet sie auch mit dem Gesetz in Probleme. Drei Jahre lang war Evelyne auf Bewährung. Im Saftladen in der Stadt Salzburg, einer Tagesaufenthaltseinrichtung, in der sie täglich warmes Essen bekam und Kontakte knüpfen konnte, fand sie schließlich Halt, beginnt sie ihre Geschichte im Gespräch mit SALZBURG24. Genau dort, in der Schallmooser Hauptstraße 38, empfingen uns Evelyne, ihr Mann Georg, der die Stadtspaziergänge seit fünf Jahren leitet, und Chefredakteurin der Straßenzeitung Apropos, Michaela Gründler.

Evelyne findet Zuflucht im Salzburger Saftladen

Beim Zusammensitzen in kleiner Runde erzählt uns Evelyne über ihr Leben. Vom Pflegekind, dass seine Mutter suchte, von Alkoholproblemen, Bewährungsstrafe und weiteren Problemen, die jahrelang ihre Wegbegleiter waren. „Aus den Heimen bin ich immer wieder abgehauen, weil ich meine Mutter finden wollte. Weil ich wissen wollte, wo komme ich eigentlich her?“, erzählt die gebürtige Wienerin. Als sie schließlich ihren Weg aus einem Heim in Niederösterreich nach Salzburg fand, sei sie schnell aufmerksam auf den hiesigen Saftladen aufmerksam geworden. Dort fand sie Zuflucht und warmes Essen. „Die Sozialarbeiter hier haben mir immer weitergeholfen“, so Evelyne.

Doch lange blieb es nicht still um sie. Nachdem sie ihrem ersten Ehemann bei rund 75 Einbrüchen assistierte, fasste sie eine dreijährige Bewährungsstrafe aus. In dieser Zeit sei ihr der Saftladen ganz besonders wichtig gewesen, weil ihr die Organisation dabei half, Struktur in den Alltag zu bekommen. Auch war Neustart, eine Einrichtung unter demselben Dach, die Menschen auf Bewährung oder mit Fußfesseln dabei assistieren, sich im Arbeitsleben zurechtzufinden, ein zentraler Stützpunkt für sie.

Mit Liebe durch Armut und Haft

Trotz der schwierigen Umstände, in denen sich Evelyne so oft wiederfand, wirkte sie glücklich, als sie uns von ihrem Mann erzählte. „Eines Tages hab ich dann am Hauptbahnhof den Georg kennengelernt – und der hatte einen guten Schmäh, deswegen hat er mir sofort gefallen“, lacht die Salzburgerin. Auch Georg bestätigt: „Es hat sofort gefunkt!“ Auch als er sieben Jahre ins Gefängnis musste, blieb Evelyne treu an seiner Seite. „Ich habe ihn regelmäßig besucht und wir haben einander ganz viele Briefe geschrieben. Über 2.000 waren es am Ende“, berichtet uns das Ehepaar. Nach seiner Haftstrafe machte auch Georg bei der Straßenzeitung mit und leitet die sozialen Stadtspaziergänge bereits seit fünf Jahren. Er habe Evelyne dazu ermutigt, sich selbst ebenfalls daran zu versuchen: „Beim Mopedfahren hab ich ihr den Vorschlag gemacht“, erzählt er.

Stadtspaziergang führt zur Apropos-Redaktion

Nach einem kurzen Spaziergang von der Schallmooser Hauptstraße aus, machten wir unter Evelynes Leitung Halt in der Glockengasse 10, wo sich die Redaktion der Straßenzeitung Apropos befindet. Kurz erklärte uns die Apropos-Verkäuferin die Aufteilung des Gebäudes: im Erdgeschoss befindet sich das Schmankerl, ein öffentlich zugängliches Gasthaus, wo das Ehepaar Aigner 2007 seine Hochzeit feierte. Im zweiten und dritten Stockwerk befinden sich Wohneinrichtungen, einerseits für schwer bis nicht integrierbare Menschen und andererseits eine Pension, in der man einen Monat lang leben kann, wenn man nicht weiß, wohin. Auch hier sind ebenfalls Sozialarbeiter angestellt. Im ersten Stock befindet sich die Redaktion – unser Ziel. Seit 1999 ist Evelyne mit dabei – und das in allen Bereichen, wie sie erklärt. Sie schreibe nicht nur bei der Zeitung mit und verkauft sie, sondern habe zusammen mit ihrem Mann auch schon Interviews geführt, Radioshows moderiert und dadurch für Apropos mehrmals Preise gewonnen. Auf die Frage, was ihr denn am besten gefallen hat, antwortet sie lachend: „Alles. Ich mache alles gern. Es macht mir einfach Spaß, man kommt unter die Menschen und ins Gespräch. Am Rande erklärt sie uns, dass sie den Spitznamen „Rasende Paparazzi“ bekommen hat, weil sie so gerne Promi-Interviews führt und dabei nicht an Fragen spart.

Leben in Armut: Ein sensibles Thema

Zusammen mit ihrem Mann und Apropos-Chefredakteurin Michaela Gründler brachte uns Evelyne ihre berührende Geschichte über das Leben an der Armutsgrenze näher. „Ich habe viel Blödsinn gemacht, aber es ist wichtig, dass man weitermacht. Man muss den Mut aufbringen, seine Geschichte zu erzählen und sich an die Menschen zu wenden, die einem helfen können. Psychische Probleme sollte man unbedingt besprechen, das betrifft uns alle“, so Aigner im SALZBURG24-Interview. Zusammen mit ihrem Mann gibt Evelyne Vorträge an Universitäten und Schulen, um auch die jüngere Generation über das Thema der Armut aufmerksam zu machen und Vorurteile zu durchbrechen.

Nach 25 Jahren Bestehen freut sich das Team der Straßenzeitung Apropos, nun auch einen Stadtspaziergang mit einer Frau anbieten zu können. Gründler nennt Georgs und Evelynes Touren liebevoll „Ying und Yang“-Spaziergänge, weil sie sich so gut ergänzen. Die Aigners seien leidenschaftlich bei der Sache und würden einzigartige Einblicke in das Leben von Armutsgefährdeten geben. Besonders Evelynes Ehrgeiz und Mut steche dabei heraus: „Sie sagt, wie es ist – so war mein Leben, das habe ich daraus gelernt, das waren die Einrichtungen, die mir geholfen haben“, zitiert sie. So mache sie anderen Betroffenen Mut, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und Einblicke zu verschaffen, fasst Gründler abschließend zusammen.

Bildergalerien

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Um einen Einblick in das Leben an der Armutsgrenze zu geben, leitet zum ersten Mal eine Frau den sozialen Stadtspaziergang in Salzburg.
Um einen Einblick in das Leben an der Armutsgrenze zu geben, leitet zum ersten Mal eine Frau den sozialen Stadtspaziergang in Salzburg.
Um einen Einblick in das Leben an der Armutsgrenze zu geben, leitet zum ersten Mal eine Frau den sozialen Stadtspaziergang in Salzburg.

(Quelle: salzburg24)

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