Phänomenologie

Was wir alle mit den suizidalen Gedanken unserer Jugend zu tun haben

Veröffentlicht: 03. Oktober 2023 14:21 Uhr
Junge Menschen werden immer häufiger von Selbstmordgedanken geplagt. Multiple Krisen, Einengung und Druck von außen werden dabei immer wieder als zentrale Gründe genannt. Aber ist das wirklich alles und welchen Einfluss hat die Haltung der älteren Generationen auf die Jugend? Wir wollen uns diesem Thema aus phänomenologischer Sicht annähern.

Suizidale Gedanken werden immer häufiger – vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Expert:innen der österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP) haben vor wenigen Wochen Alarm geschlagen. Denn neue Daten belegen eine Realität, die man kaum glauben mag: Seit 2018 sind suizidalen Gedanken und Handlungen bei unter 18-Jährigen um das Dreifache angestiegen. Und: Suizid ist derzeit die zweithäufigste Todesursache bei Kindern und Jugendlichen.

Woran liegt es, dass vor allem junge Menschen derart von Selbstmordgedanken geplagt werden? Wie konnte es überhaupt so weit kommen und – auch diese unangenehme Frage müssen wir uns stellen – welche Verantwortung tragen wir als Gesellschaft?

Kinder müssen sich (ein)fügen

Auf den jungen Menschen laste sehr viel Druck. Druck, den die älteren Generationen oft gar nicht sehen und erkennen würden, meint die Expertin für phänomenologische Psychologie, Marion Hötzel, im SALZBURG24-Interview. Auch wenn viele Familien ihren Kindern heute finanzielle Sicherheit geben können, sei das, was der Jugend emotional betrachtet hinterlassen werde, oft katastrophal. Zum einen fehle den Kindern das Commitment, der Halt in der Familie. „Die meisten Kinder, die heute geboren werden, sind geplant und müssen sich in das, was schon existent ist, einfügen. Sie müssen ‚händelbar‘ sein und wenn sie das nicht sind, hebt es die Familie aus den Angeln.“

Druck auf mehreren Ebenen

Hinzu komme, dass unser heutiges psychologisches Wissen die Gefahr in sich berge, dass viele Eltern oft Angst hätten, bei der Erziehung ihrer Kinder etwas falsch zu machen. Man verlasse sich nicht mehr auf die Intuition, handle nicht mehr aus dem Bauch heraus, sondern schaue zuerst darauf, was die Psychologie sagt. Dabei würden die echten Bedürfnisse der Kinder oft übersehen. „So haben wir ein Kind, das lernt, dass es nicht gesehen wird und nicht den Vorstellungen der Eltern entspricht. Dazu kommt eine Gesellschaft, die das trägt. Und als Drittes ist auch zu sagen, dass meine Generation versagt hat. Denn wir haben es nicht geschafft, den Raubbau an unserer Umwelt zu verhindern. Dieses Versagen übergeben wir jetzt an die junge Generation, denn wer außer ihnen soll die Kastanien sonst aus dem Feuer holen?“

Kopie von ZENtrum Mondsee SALZBURG24/Wurzer
Marion Hötzel leitet gemeinsam mit ihrem Mann Bernhard die Schule für Meditation, Achtsamkeit und Bewusstsein in Mondsee.

Aus der Perspektive der Bewusstseinsforschung und der phänomenologischen Psychologie befinden sich Kinder und Teenager demnach mehr und mehr in einer Art Zwickmühle – stehen überspitzt gesagt zwischen „Nicht gesehen werden“ und „Ich muss die Welt retten“. Aus dieser Zwickmühle entstehen Enge und Druck. „In dem Alter kann man aber noch nichts wirklich bewegen, der Druck geht also nach Innen und bleibt dort. Das wird mit der Zeit unerträglich. Und somit haben sie keine andere Wahl, als sich resignativ in sich selbst zurückzuziehen. Die Seele wird dann krank und müde. Das ist ein sehr energieraubender Zustand“, beschreibt die in Mondsee lebende und lehrende Therapeutin.

Was also können wir tun? „Nichts“, meint Hötzel. Als Mutter oder Vater, aber auch als Teil der Gesellschaft müsse man die eigene Hilflosigkeit anerkennen. „Erst wenn ich das tue, kann ich das leidende Kind erreichen – und zwar auf rein emotionaler Ebene.“ Mit kognitivem Handeln habe das nichts zu tun, hier gehe es tatsächlich nur ums Fühlen. „Und wenn ich dann mein Kind sehe, so hilflos, so schwach, tut mir das als Mutter oder Vater unfassbar weh. Und in diesem Schmerz liegt die Liebe und in dieser Liebe kann das Kind sich vielleicht zum ersten Mal gesehen fühlen und auch seine Not verstanden wissen.“ Aus dieser Verbindung heraus könne dann etwas Neues entstehen.

Jugend hat Kraft für große Veränderung

In der Bewusstseinsentwicklung seien die jungen Menschen von heute fortgeschrittener, als es die älteren Generationen jemals waren und sind. „Unsere Jugend ist besonders ausgestattet mit einer sehr tiefgehenden Emotionalität. Sie sind viel mehr bereit für ein Gemeinwohl einzutreten, als wir“, meint Hötzel. Zudem erkennt Hötzel in der jungen Generation neue Fähigkeiten der Reflexion und Wahrnehmung. Die Intuition verbunden mit dem Kognitiven spiele eine immer größer werdende Rolle. Jede Jugendbewegung habe die Kraft, große Dinge zu verändern, und das werde die jetzige auch tun, ist sich die Expertin für modernes Bewusstsein sicher – „denn das Leben hat keinen Rückwärtsgang“.

"Jugendliche sind der Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben."

Noch lebten wir in einer Gesellschaft, die an Pubertierende erinnert, mein Hötzel. Denn der Pubertierende will keine Verantwortung, keine Bildung, ist auf sich gerichtet und rücksichtslos. „Wir erkennen das pubertäre Bewusstsein also auch in unserer Gesellschaft. Das was unsere Pubertierenden jetzt durchmachen ist also ein Abbild unserer Gesellschaft. Nicht nur sie, sondern wir alle befinden uns im Umbruch.“

Was ist Phänomenologie?

Die Phänomenologie ist eine philosophische Methode und eine philosophische Tradition, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelt wurde, hauptsächlich von Edmund Husserl, einem deutschen Philosophen. Die Phänomenologie zielt darauf ab, das Wesen und die Struktur menschlicher Erfahrungen zu untersuchen, indem sie sich auf das unmittelbare Erleben und die bewusste Wahrnehmung konzentriert. Die Phänomenologie hat viele verschiedene Anwendungen hervorgebracht, darunter etwa die phänomenologische Psychologie, die versucht, die Verflechtung von Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen zu erforschen.

Hilfe bei psychischen Problemen

Bist du in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchst Hilfe? Sprich mit anderen Menschen darüber. Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Suizidpräventionsportal des Gesundheitsministeriums.

Unter www.suizid-praevention.gv.at finden sich Kontaktdaten von Hilfseinrichtungen in Österreich. Infos für Jugendliche gibt es unter www.bittelebe.at.

Psychosozialer Dienst des Landes Salzburg

  • Telefonnummer: 0662 8042 3599

Weitere Angebote im Bundesland

(Quelle: salzburg24)

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