Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, hat eine soziale Ader. Nach seinem aufsehenerregenden Projekt "Rhythm is it" mit sozialen Problemkindern in Berlin, hat der britische Maestro seit Jahren ein Naheverhältnis zum venezuelanischen Projekt "El Sistema", das heuer bei den Salzburger Festspielen eine zentrale Rolle spielt. Rattle wird am Samstag in Salzburg nicht das renommierte Simon Bolivar Orchestra dirigieren, sondern sich mit den Kindern von "El Sistema" beschäftigen, dem Orchestra Sinfonica Nacional Infantil. Dort sind die Musiker gerade einmal sieben bis zwölf Jahre alt, nur einzelne Musiker zählen 15 Lenze. Sir Simon hat der APA kurz vor dem Konzert im Trainingslager des Orchesters in Kuchl bei Hallein folgendes Interview über "seine Kinder aus Venezuela" gegeben.
APA: Herr Rattle, warum haben Sie ausgerechnet Mahlers erste Symphonie, den "Titan", aufs Programm gesetzt? Ist diese schwere Musik denn kindergerecht?
Rattle: Absolut ja. Mahler war selbst knapp über 20 Jahre alt, als er den "Titan" schrieb. Vor allem aber sind die Gefühle und die musikalischen Inhalte dieser Musik klar und direkt. Diese jungen Musiker aus Venezuela haben oft tiefe, einschneidende Lebenserfahrungen gemacht, mehr als die meisten jungen Leute in Europa. Die spüren die Ehre und Würde in dieser Musik und begreifen deren Sinn. Würde ich etwa die als kindlich geltende "Zauberflöte" spielen lassen, wäre das eine Katastrophe. Der Inhalt ist viel zu philosophisch, vertrackt und schwierig.
APA: Was ist für Sie der Unterschied in der praktischen Arbeit zwischen den Top-Profis "Ihrer" Philharmoniker und diesem Kinderorchester?
Musik, Sex und Essen
Rattle: Ich spreche mehr in Bildern und erkläre die Musik mehr in Farben und Geschichten. Bilder und Geschichten über Sex und Essen funktionieren dabei am besten. Wenn ich das richtig erwische, dann kann ich meine musikalischen Ideen schneller und genauer transportieren, als wenn ich mit Profis über Tempi, Dynamik und Spieltechnik rede. Und wenn Zuhörer dieser Kinderkonzerte in zwei Minuten zu weinen beginnen, dann muss da wohl irgendetwas richtig laufen.
APA: Sie haben bereits vor drei Jahren in Caracas mit diesem Kinderorchester gearbeitet. Hat es sich in dieser Zeit weiterentwickelt?
Rattle: Und ob. Schon damals waren die Musiker unvergleichlich engagiert. Jetzt sind sie wie ein normales Profiorchester im besten Sinn des Wortes. Bemerkenswert sind die Älteren, die damals schon dabei waren. Die lassen sich von den ganz Jungen zusätzlich motivieren und anspornen. Das ist typisch für das Sistema, in Europa wäre so etwas kaum möglich.
Lebensretter „El Sistema"
APA: Was genau ist für Sie das wirklich Besondere am Musikprojekt "El Sistema"?
Rattle: In den Dörfern und Städten, aus denen die El-Sistema-Musiker überwiegend stammen, gibt es derart viele soziale Probleme, dass man El Sistema ohne Übertreibung als "Lebensretter" bezeichnen kann. In Venezuela ist der soziale Zusammenhalt durch dieses Musikprojekt enorm und rückt zusehends ins Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens. Um Zusammenhalt, gegenseitige Achtung, Verantwortung für den anderen und ein Zusammenspiel im wörtlichen Sinn geht es letztlich in jeder Gesellschaft. Das ist nicht nur über Musik zu erreichen, aber mit Musik funktioniert es hervorragend. Das hat El Sistema bewiesen und beweist es Tag für Tag. Somit hat El Sistema Modellcharakter für alle sozial noch weniger entwickelten Gesellschaften.
APA: Stimmt es, dass El-Sistema-Stardirigent Gustavo Dudamel ihr Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern werden soll?
Rattle: Davon weiß ich nichts. Die Berliner Philharmoniker sind ein extrem demokratisches Orchester. Sie haben damals für mich gestimmt. Ich hätte das nicht gemacht, aber die lassen sich absolut nicht dreinreden (lacht). Wenn etwas Neues kommt, wird es gut sein für mich und das Orchester. Aber alles andere müssen sie die Musiker selbst fragen.
(Quelle: salzburg24)