„Er hat die Hand auf meinen Oberschenkel gelegt und mir eine sexuelle Beziehung angeboten. Er hat gemeint, dass ich verklemmt wäre und es mir guttäte“. Sexuelle Übergriffe dieser Art erlebt in Österreich etwa jede dritte Frau im Laufe ihres Erwachsenenalters. Dabei geht es um Macht. Macht, die der Täter durch Herabsetzung und Demütigung seines Opfers erlangt. Es ist ein Gewaltakt.
Generell existieren Machtstrukturen in allen Formen menschlichen Zusammenlebens, entsprechend ist auch die sexualisierte Gewalt strukturell bedingt in sämtlichen Lebensbereichen und Gesellschaftsschichten zu finden. Das bedeutet: Missbrauch, Missbrauchsversuche und sexualisierte Übergriffe gibt es in der Familie, im Verein, in Schulen oder Heimen sowie in der Kirche – in der katholischen, wie der evangelischen.
„Sogar der Pfarrer, sogar der Pfarrer“
Das Anfangszitat stammt von einer heute Mitte 40-jährigen Salzburgerin. Wir nennen sie Luisa. Vor rund 20 Jahren hat ihr ein evangelischer Pfarrer Sex angeboten. „Er wäre gerade in einer Midlife-Crisis und sexuell ausgehungert, hat er damals zu mir gesagt“, erzählt Luisa im Gespräch mit SALZBURG24. Die Salzburgerin war seit vielen Jahren in der Kirche aktiv und hatte sich kurz vor dem Vorfall nach sexuellen und gewaltsamen Übergriffen durch Täter im näheren Umfeld und durch Fremde ihrem knapp 30 Jahre älteren Seelsorger anvertraut. „Er war zu diesem Zeitpunkt wie ein Vater für mich“, sagt sie. „Ich konnte es nicht fassen, was da passiert ist. Ich war wie erstarrt, im Freeze, bis er den Raum verließ. In meinem Kopf hämmerte es nur: 'Sogar der Pfarrer, sogar der Pfarrer!'
Nach diesem Ereignis änderte sich für Luisa alles, sie verlor mehr und mehr den Halt in der Kirchengemeinde, fühlte sich gemobbt, fallen gelassen und diffamiert. „Der Pfarrer erzählte allen, ich sei psychisch krank und man dürfe mir nichts glauben“. Sie stürzte in Depressionen und trat dann drei Jahre später aus der Kirchengemeinde aus.
Wie strukturelle Gewalt (in der Kirche) „funktioniert“
Strukturelle Gewalt in der Kirche sei jahrelang gedeckt worden und werde das heute mitunter immer noch, sagt Sozialpädagogin Birgit Bütow von der Universität Salzburg im S24-Gespräch. Beide Kirchen – die katholische wie die evangelische – hätten einen großen Stellenwert in der Gesellschaft. Und vor allem hätten sie Macht. Diese findet ihren sichtbaren Ausdruck zum einen im materiellen Besitz, zum anderen im Einfluss auf die Politik. Mit Blick auf den Pfarrer als Seelsorger, der auch Intimes über eine Person kenne, berge die durch die Struktur vorgegebene Macht daher immer die Gefahr, dass (sexualisierte) Gewalt geschehe. „Gewalt ist nichts anderes als Kontrolle über einen Menschen auszuüben“, konkretisiert die Wissenschafterin.
Dass sich die Täter ihrer Macht und ihrer Verfehlungen bewusst sind, ist aus Forschung und Therapie allgemein bekannt. „Daher werden auch gezielt intime Situationen mit dem Opfer geschaffen“, sagt Bütow. Durch dieses intime Miteinander gelinge es dem Täter die strukturelle Gewalt zu übersetzen in: „Dir wird keiner glauben“. Für ihre Opfer sei das hochtragisch, macht Bütow deutlich. „Sie wissen nicht, wem sie vertrauen können und wo sie Hilfe bekommen. Sie leben oft jahrelang mit ihrem Wissen aus ihrer Erfahrung, doch niemand glaubt ihnen. Das ist krankmachend“.
Auch die Täter-Opfer-Umkehr sei ein bekanntes Merkmal struktureller Gewalt. „Dabei werden die Opfer beschämt und kriminalisiert. Es wird ihnen vorgeworfen, dass sie den Täter schlecht machen wollten.“ Als weitere Form struktureller Gewalt gilt die „Allianz der mächtigen Männer“. Diese spiele gerade in der Kirche eine relevante Rolle, ordnet Birgit Bütow wissenschaftlich ein. Kirche, Macht und Geschlechterverhältnis verstärken sich gegenseitig. Für Täter wie Mitwissende entsteht eine Art verinnerlichte Schnur, die ihnen die Sicherheit gibt, Unrecht zu tun, ohne bestraft zu werden. „Es wird dann einfach was draufgelegt. Und weil es nicht sein darf, dringt es nicht nach außen.“
Der „eigentliche Missbrauch“
Zurück zu Luisa: Auch hier drang nichts nach außen, obwohl Luisa immer wieder versuchte, sich innerhalb der Pfarre Hilfe zu holen bzw. mit Vertreter:innen der Kirche eine Klärung der Situation herbeizuführen. Von einer polizeilichen Anzeige gegen den Seelsorger sah Luisa ab, da sie hoffte, dass das in einem Gespräch in professionellem Setting – „ich wollte, dass sich alle an einen Tisch setzen“ – geklärt werden kann. Doch dazu kam es nicht. Wie aus einem Clearingbericht des Weißen Rings aus dem Jahr 2020 hervorgeht (S24 liegen die Dokumente vor) reichten die Reaktionen von Victim Blaming bis hin zu Ratschlägen, den Annäherungsversuch als Kompliment aufzufassen. Damit war auch Luisa mit den typischen Merkmalen struktureller Gewalt, wie Täter-Opfer-Umkehr, konfrontiert.
Als 2010 – fünf Jahre nach dem Sex-Angebot – erste Berichte über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche öffentlich wurden, machte sich Luisa erneut auf die Suche nach geschulten und professionellen Ansprechpartner:innen innerhalb der Kirche. Sie meldete den Fall unter anderem bei der Gleichstellungsbeauftragten und wagte auch damals schon den Schritt in die Öffentlichkeit. Acht weitere Jahre sollte es dauern, bis es zu einem Treffen zwischen Luisa und dem Pfarrer, begleitet durch eine Mediatorin, gekommen ist. Die Mediation ist jedoch nach elf Terminen gescheitert.
Schließlich erwirkte die Salzburgerin nach weiteren Jahren der Beharrlichkeit ein Disziplinarverfahren gegen den Seelsorger. „Ende Juni 2020 habe ich erfahren, dass ich ein Disziplinarverfahren beantragen muss, bis dahin war ich der Meinung, das macht der Bischof.“ Der damalige Bischof hatte jedenfalls keines eingeleitet. „Ich bin heute noch der Meinung, dass so etwas von den Verantwortlichen kommen muss, das kann man den Betroffenen nicht auch noch zumuten“, sagt Luisa.
Der Pfarrer wurde zunächst im Herbst 2021 schuldig und ein Jahr später in höherer Instanz freigesprochen. Das Verfahren erstreckte sich über mehrere Verhandlungstermine. Luisa wurde einmal für rund zehn Minuten angehört. Heute ist der Pfarrer in Pension. Ob und welche konkreten dienstrechtlichen Konsequenzen es damals für ihn gab, bleibt auch nach Rückfrage bei der Evangelischen Kirche (EK) unklar: „Dem Pfarrer wurden neben der persönlichen Entschuldigung jene Konsequenzen auferlegt, die angesichts des Sachverhalts dienstrechtlich möglich waren, darunter u. a. die Teilnahme an einem mehrmonatigen Mediationsverfahren“, teilt die Pressestelle EK mit. Detaillierte Angaben könne man dazu aus rechtlichen Gründen jedoch nicht machen.
Die Evangelische Kirche spricht von „sehr vielen Gesprächen zwischen Luisa und hochrangigen Vertreter:innen der Kirche“ seit 2010. Man habe seither „zahlreiche Anstrengungen“ unternommen, um den Vorfall aufzuarbeiten. Gespräche habe es viele gegeben, sagt auch Luisa, aber lediglich zwei in professionellem Setting und begleitet von Gewaltschutzexpert:innen, kritisiert sie. Schließlich wurde die „Angelegenheit“ von der Kirche an die Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ übertragen. Diese sprach Luisa einen Geldbetrag von 2.000 Euro als Auslagenersatz für 20 Therapiestunden zu, was von der Kirche zu tragen war. Der Weiße Ring selbst wollte auf S24-Anfrage mit Verweis auf den Datenschutz keine nähere Auskunft dazu geben. Ein Protokoll eines vom Weißen Ring begleiteten Gesprächs zwischen Luisa und dem heutigen Bischof Michael Chalupka liegt nicht vor.
Auf die Frage, ob und wie der Fall von Luisa auch kirchenintern aufgearbeitet wurde, heißt es: „Ja.“ So habe man sich in der Nachbetrachtung damit beschäftigt, was anders bzw. besser gemacht hätte werden sollen. „Die Ableitungen daraus sind u. a. in die umfassende Gewaltschutzrichtlinie der Evangelischen Kirche und in andere Grundsatzentscheidungen eingeflossen. Heute würde es z. B. in einem derartigen Fall immer zu einer Anzeige bei der Polizei kommen“, betont die EK gegenüber SALZBURG24.
Seit dem Sex-Angebot durch den Pfarrer sind knapp 20 Jahre vergangen. Doch nach wie vor kämpft Luisa für eine „echte“ Aufarbeitung ihres Falls anstatt der angewendeten „Alibimaßnahmen“, wie sie es nennt. Denn „das was danach passierte, war der eigentliche Missbrauch“, sagt sie. „Es wurde bis heute nie untersucht, wie das überhaupt so weit kommen konnte, dass mir damals niemand geglaubt und geholfen hat und mein Ruf geschädigt wurde.“
20 Jahre später: Ombudsstelle nimmt sich Luisa an
Die Aufarbeitung (sexualisierter) Gewalt betreffend verweist die evangelische Kirche in Österreich auf das Projekt „Hilfe für Opfer in Einrichtungen der Evangelischen Kirche A.B und H.B. und der Diakonie Österreich“ und den Weißen Ring, der seit 2011 als unabhängige Organisation damit beauftragt ist, entsprechende Fälle aufzuarbeiten. Zudem gebe es inzwischen in allen evangelischen Pfarrgemeinden bzw. Einrichtungen eine:n Gewaltschutzbeauftragte:n. Wer eine Grenzverletzung, einen Übergriff oder Gewalt erfährt (oder davon Kenntnis erlangt), könne sich direkt dort hinwenden, so die Kirche gegenüber S24.
Am 7. August 2023 ist die Gewaltschutz-Richtlinie der EK in Kraft getreten, seit 1. Jänner dieses Jahres gibt es eine Gewaltschutz-Ombudsstelle, die bis Ende Oktober insgesamt zwölf Mal kontaktiert wurde. Luisa ist auch unter den Personen, die sich gemeldet haben, bestätigt Ombudsfrau Astrid Winkler vor wenigen Tagen im S24-Gespräch.
Der Fall sei insofern ein "Sonderfall", weil im Laufe der Jahre kirchenseitig Maßnahmen gesetzt worden sind und die Sache somit aus Sicht der Kirche formal als abgeschlossen gesehen werden könnte, sagt Winkler. Allerdings sei sie als unabhängige und weisungsfreie Ombudsstelle der Evangelischen Kirche verpflichtet, sich mit jeder Meldung und jedem Anliegen, das an sie herangetragen würde, zu beschäftigen. „Das gilt natürlich insbesondere dann, wenn sich eine betroffene Person selbst meldet. Da kann ich nicht einfach sagen, ich bin nicht mehr zuständig, das würde meiner Aufgabe und Rolle nicht gerecht.“
Und weiter: „Ich erkenne die Überforderung der involvierten Personen. Zwar wurde in guter Absicht vieles versucht, aber vieles eben zu spät und unkoordiniert“, sagt sie. Aus dem Dilemma heraus sei eine Eigendynamik entstanden, die beide Seiten erschöpft und misstrauisch zurückließ. „Das Geschehene und die emotionale Belastung der handelnden Personen an unterschiedlichen Schnittstellen des Systems wurde nicht professionell eingefangen, es gab keine Fachperson, die das alles von Beginn an begleitete.“ Ihren Blick auf die 20-jährige Geschichte des Falls rund um Luisa wird die Ombudsfrau zeitnah in einer schriftlichen Conclusio an die Kirchenleitung übermitteln. „Was die Kirche damit macht, darauf habe ich keinen Einfluss“, sagt sie. Damit dürfte die Kirche den Fall wohl noch nicht völlig ad acta legen können.
Missbrauch in der evangelischen Kirche
Missbrauch in der evangelischen Kirche scheint gerade in Österreich nach wie vor ein großes Tabuthema. In Deutschland, wo die Glaubensgemeinschaft rund 18,6 Millionen Mitglieder zählt, wurden Anfang des Jahres in einer bislang einzigartigen Studie 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter zu sexualisierter Gewalt dokumentiert. Die Studienautoren sprachen damals von einer „Spitze der Spitze des Eisbergs“. In der vergleichsweise sehr kleinen Kirche in Österreich mit aktuell rund 257.000 Mitgliedern sind kaum Fälle sexualisierter Übergriffe durch Pfarrer bekannt – oder gar öffentlich dokumentiert. Auch eine Erhebung nach deutschem Vorbild gibt es bis dato in Österreich nicht. Die EK in Österreich sieht sich der Aufarbeitung (sexualisierter) Gewalt betreffend „deutlich weiter als in Deutschland“. Laut Auskunft der hiesigen Kirche wurde mit der Gewaltschutzrichtlinie, der Opferschutzorganisation Weißer Ring und der installierten Obmudsstelle bislang „weit mehr getan, als eine Erhebung durchgeführt“, heißt es in einem Statement an SALZBURG24.
Im Rahmen eines Projektes des Weißen Rings, das 2012 im Auftrag der evangelischen Kirchen und Diakonen gestartet ist, wurden insgesamt 211 Personen (mit Stand 31. 12. 2023) dokumentiert, die als Kinder in Einrichtungen dieser Organisation Gewalt erlebt haben. Dabei gehe es in allen Fällen um körperliche und psychische Gewalt, in rund der Hälfte der Fälle zusätzlich auch um sexuelle Gewalt, so die Opferschutzorganisation gegenüber S24.
Die evangelische Kirche habe sich beim Thema sexueller Missbrauch mit dem vermeintlichen Argument des Zölibats lange hinter der katholischen Kirche versteckt, sagt Sozialwissenschafter Heiner Keupp, der mit dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) federführend an der deutschen Studie beteiligt war und unter anderem auch die Missbrauchsfälle im Stift Kremsmünster wissenschaftlich untersuchte. Heute wisse man, dass nicht das Zölibat alleine sexualisierte Übergriffe und Missbrauch in der Kirche auslöse. Man müsse daher davon ausgehen, dass es in Österreich deutlich mehr Fälle gebe als bislang bekannt seien.
Im SALZBURG24-Gespräch fordert Keupp eine unabhängige Aufarbeitungsstudie – und das im Auftrag der evangelischen Kirche selbst. „Damit diese Mauern des Schweigens wirklich aufgebrochen werden können“, sagt er. Berichte über Einzelfälle seien nicht zielführend. Nur wenn die Betroffenen eingebunden werden, etwa über einen Betroffenenbeirat, könne echte Aufarbeitung geschehen, so Keupp. Die evangelische Kirche in Österreich müsse – wie die deutsche es bereits getan hat – sich öffentlich dazu bereiterklären mit den Betroffenen zu reden. „Denn erst dann werden sich die Betroffenen melden.“
Anlaufstellen für von Gewalt (in der Kirche) betroffene Frauen
- Gewaltschutz-Ombudsstelle der Evangelischen Kirche (Astrid Winkler)
- Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche (Karin Roth)
- Frauennotruf
- Gewaltschutzzentrum Salzburg
- Weitere Hilfen im Land Salzburg
(Quelle: salzburg24)