SALZBURG24: Wann haben Sie sich gedacht: Die Stolpersteine gehören geputzt und ich mache das jetzt einfach selbst?
GERHARD GEIER: Wir sind vor nicht ganz zwei Jahren von Zell am See nach Salzburg gesiedelt. In meiner Wohnungsgegend hier sind einige Stolpersteine und die sind sehr dunkel gewesen, sodass man sich schwer tut beim Lesen. Im November ist dann in vielen Medien über das 80-jährige Gedenken zum Holocaust und die Pogromnacht berichtet worden. Da habe ich mir gedacht: Was wäre, wenn du als deinen Beitrag die Steine putzt?
Im Jänner habe ich mit dem Personenkomitee Kontakt aufgenommen, ob das überhaupt gewollt ist. Das Komitee war sehr damit einverstanden, die haben mir nur nicht zugetraut, dass ich wirklich alle Steine putze. Mitte April habe ich dann angefangen.
Welchen Plan haben Sie sich dafür zurechtgelegt?
Eine bestimmte Reihenfolge habe ich eigentlich nicht gehabt. Es war mir wichtig das Grätzl rund um meine Wohnung zu machen, das habe ich in der Riedenburg als erstes gemacht. Dann habe ich die Altstadt, den Mönchsberg und Kapuzinerberg gemacht. Mir ist vorgekommen, das ist das Wichtigste, weil es von den Leuten am meisten wahrgenommen wird. Und dann habe ich sie einfach genommen, wie sie daherkommen. Ich habe mir die Listen für die einzelnen Stadtteile ausgedruckt und mir einen Weg zusammengebastelt. Mit einer kleinen Sackrodel und einer Kiste mit Werkzeug bin ich durch die Stadt gegangen.
Was haben Sie zum Putzen mitgenommen?
Da habe ich vor allem viel Wasser mit, weil man das Mittel, also Salz und Wasser, nach dem Auftragen gut abspülen muss, sonst oxidiert es stark weiter. Dann habe ich noch mit Tücher, Autopolitur, einen Akkubohrschrauber, auf dem ich meine Bürsten zum Polieren draufgegeben habe, eine Zange, einen Hammer und ein Zahnbürstel. Das habe ich zwar nicht gebraucht, aber es ist mir die ersten paar Male passiert, dass ich dadurch Assoziationen hatte mit den Juden, die in diesem Jahr (1938, Anm.) dazu verpflichtet wurden, unsere Straßen zu wischen und zu polieren.
Beim Putzen gehen Ihnen also die Schicksale der Menschen durch den Kopf?
Ja, das ist sehr stark. Beim Putzen kommt so etwas wie eine Beziehung auf. Wenn ich die Autopolitur aufgetragen habe, habe ich mit einem Mikrofasertuch die letzten Reste sanft abgewischt und das war schon so etwas wie ein Gruß, eine Verabschiedung von dem Stein, von der Person, die man sich vorstellt.
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Zu dieser Zeit, an der Sie beim Putzen zurückgedacht haben, waren Sie noch ein Kind. Haben Sie noch Erinnerungen an den Krieg?
Aus dieser Zeit gibt es etwa drei Bilder, die ich im Kopf habe. Wir waren in Bischofshofen und da ist der Bahnhof sehr stark bombardiert worden. Mein Vater war Eisenbahner und wir haben daneben in der Salzburger Straße in den Eisenbahnhäusern gewohnt. Mein Bruder und ich sind zum Einkaufen in den Markt geschickt worden und beim Heimgehen gibt es Fliegeralarm. Und während dieser Alarm kommt, sind die Tiefflieger schon angerückt und wir haben uns beim Gasthaus Bär unter den Türbogen gestellt und diesen Luftangriff beobachtet.
In meiner zweiten Erinnerung sind wir ausgebombt worden und waren im Luftschutzkeller des Hauses. Als der Fliegeralarm aufgehoben worden ist, sind wir raus aus dem Keller. Meine Mutter, ich und meine zwei Brüder sind über das Feld zu unserem Luftschutzstollen gelaufen. Und wie ich zurückgeschaut habe, habe ich gesehen, dass eine Wand bei unserem Haus fehlt. Das ist ein Bild das habe ich mir gemerkt, wie unsere Kästen da so im luftleeren Raum stehen. Und an einen weiteren Tieffliegerangriff, der die Tauernstrecke betroffen hat, erinnere ich mich auch noch.
Sie hatten zuvor eigentlich keine besondere Beziehung zu den Stolpersteinen. Haben Sie sich während ihrer Tätigkeit näher mit den Geschichten beschäftigt?
Immer wieder, ja. So war es auch in Leopoldskron-Moos, in dem ehemaligen Sinti und Roma-Lager („Zigeunerlager Maxglan“, Anm.). Da waren an einer Stelle 21 Steine, die aller dort von diesem Lager Deportierten gedenken sollen. Ich habe angefangen den Stein von einem Mädchen mit 14 Jahren zu putzen. Dann habe ich weitergelesen und bin draufgekommen, dass dieses Mädchen das älteste Kind war. Die anderen 20 Steine erinnern an Kinder, die zwischen 17 Tagen und drei Jahre alt waren. Das berührt. Wobei ich dort Unterstützung hatte von einer Anrainerin. Die hat ein bisschen mehr über die Geschichte von dem Lager gewusst.
Gibt’s noch weitere Schicksale, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Ja. Der letzte Stein, den ich gemacht habe – das war ein Zufall, auch, wenn es nicht so glaubwürdig klingt – erinnert an einen KZ-Häftling, der am letzten Tag vor der Befreiung im Volksgarten ermordet worden ist. Das war der letzte Stein am letzten Tag sozusagen. Das erschüttert einen schon. Warum? Diese Frage drängt sich ständig auf. Und da ist auch die Assoziation, die ich natürlich an die heutige Zeit habe. Warum müssen wir das Theater machen über die Flüchtlinge, über das Fremde?
Beunruhigen Sie die politischen Entwicklungen der letzten Zeit?
Sehr. Bis Anfang der 80er-Jahre war es verpönt, etwas zu sagen oder zu tun, das aussagte: Hitler hatte auch etwas Gutes. In den 80ern änderte sich das. Da ist im Wirtshaus jemand hereingestürmt, hat die Hacken zusammengeschlagen und mit "Heil Hitler" gegrüßt. Ich habe mir das nicht gefallen lassen, bin aufgestanden und der Wirt sagte, ich solle mich beruhigen. Aber der, der das gemacht hat, hat unbeanstandet weiter sein Bier trinken können. Und das nimmt jetzt sogar zu. Das Tabu ist gebrochen.
Sie waren früher Gemeinderat, haben sich immer schon politisch engagiert. Jetzt haben Sie das Gefühl, wir bewegen uns in eine beunruhigende Richtung: Wie kann gegengesteuert werden?
Vor allem sollte man aufhören zu sagen: Die alten Sachen soll man ruhen lassen. Im Gedenken an die Toten soll man die Erinnerung daran auch noch totschweigen. Und das, glaube ich, ist falsch. Das ist gar nicht vorstellbar, was da alles passiert ist und wer alles mitgemacht hat. Darum glaube ich auch nicht an dieses „Wir haben ja nichts gewusst“. Niemand hat etwas gewusst, aber sie haben sich an der Hasenjagd im Mühlviertel beteiligt. Und heute sind es die Gutmenschen. Das ist ja auch inzwischen ein Schimpfwort geworden: Wenn man sich darum kümmert, ist man ein Gutmensch. Ich halte diese Bezeichnung, wenn sie jemand bringt, gut aus. Ich fühle mich auch als ein solcher.
In Maxglan hat ihnen eine Frau die Geschichte hinter den Steinen erzählt. Wie haben die Leute denn generell reagiert, wenn sie Sie beim Putzen gesehen haben?
Die Leute haben ausschließlich positiv reagiert. Bis auf einen Mann in der Franz-Josef-Straße. Da hat sich ein Paar mit mir unterhalten und mir erzählt, dass sie die Steine vor ihrem Haus auch schon einmal geputzt haben. Dann ist ein anderer Bewohner herausgekommen und sagte, was das solle, was das wieder Geld koste. Wie ich ihn aufgeklärt habe, dass das nichts kostet, weil ich das freiwillig mache, meinte er „Niemand hat mich gefragt, ob ich das überhaupt will, dass hier ein Stolperstein verlegt wird.“ Aber sonst, auch in der Altstadt, von Engländern bis Japaner, alle haben sich dafür interessiert und auch gefragt, ob sie fotografieren dürfen. Ich habe mir schon gedacht, wenn ich da mit meinem Stockerl sitze und putze, dass jemand fragen wird, was ich da mache. Aber dieses große Echo habe ich nicht erwartet. Und schon gar nicht das große Medienecho.
Haben Leute angeboten Ihnen zu helfen?
Nein, aber es hat einige Leute gegeben, die sich spontan bedankt haben. In der Paris-Lodron-Straße hat mir ein älterer Herr von einiger Entfernung aus zugeschaut und als ich fertig war, ist er hergekommen und hat sich bedankt. Mehr hat er nicht gesagt. Ich habe dann gefragt, ob er Betroffener sei. Nein, aber finde das wichtig. Das war ein schönes Erlebnis, dass er gleich denkt, wie ich.
Also haben sich durch diese Tätigkeit besondere Begegnungen ergeben.
Ja, auch mit einem Buben im Kaiviertel. Der war so zehn Jahre alt, ist mit seinem Tretauto ein paar Mal vorbeigefahren und dann stehen geblieben und hat angefangen, mit mir über die Stolpersteine zu reden. Und er hat gewusst, was das ist und was sie bedeuten.
Sie sind mittlerweile 79 Jahre alt, warum tun Sie sich diese Arbeit überhaupt noch an? Sollte das nicht besser die jüngere Generation übernehmen?
Man darf nicht immer warten, dass die anderen etwas tun. Das habe ich mein ganzes Leben lang nicht gemacht. Wenn ich eine Idee gehabt habe, habe ich das gemacht. Ich habe aber mittlerweile den Eindruck, auch aus Reaktionen, sollte es notwendig sein die Stolpersteine wieder zu putzen, dass einige mir helfen würden. Auch das Seekirchner Gymnasium hat sich gemeldet und erklärt, dass man dort vielleicht so etwas in Angriff nehmen möchte.
Wäre das nicht auch eine Idee, um den Leuten das Geschichtsbewusstsein wieder näher zu bringen?
Das kann ich mir vorstellen, ja. Das ist auch der Sinn dieser Steine. Daran zu erinnern, dass da ein Mensch wie du und ich gewohnt hat, den man, nur weil er eine andere Religion gehabt oder einer anderen Volksgruppe angehört hat, umgebracht hat. Das haben wir ja ein bisschen wieder, es ist nur eine andere Religion. Ein Schüler hat das so formuliert: „Nicht wir sollen stolpern, sondern das Hirn soll stolpern.“
Bis auf die neu verlegten Stolpersteine in der Linzergasse haben Sie in Salzburg alle geputzt. Wollen Sie noch weiter machen?
Meine Frau sagt, im Sommer muss ich jetzt Pause machen, weil da müssen wir baden gehen (lacht). Aber vielleicht mache ich im Herbst die Steine in St. Johann und Hallein noch.
Vielen Dank Herr Geier für das interessante Gespräch!
(Quelle: salzburg24)