Grüne Ein- und Aussichten

"Politik muss die Vielfalt des Lebens ermöglichen"

Martina Berthold (links im Bild) und Anna Schiester im Interview mit SALZBURG24-Chefredakteurin Nicole Schuchter
Veröffentlicht: 03. Oktober 2022 16:47 Uhr
In der Politik ist es wie im Leben: Nicht alles ist planbar. Das haben jetzt auch Salzburgs Grüne zu spüren bekommen. Der Pflegeskandal führte ein halbes Jahr vor den Landtagswahlen zu Personalrochaden, in deren Mittelpunkt zwei Frauen stehen: Martina Berthold und Anna Schiester. Wir haben die beiden zum Doppel-Interview getroffen.

„In jeder Krise steckt eine Chance, man muss sie nur erkennen“ – ein Satz, der mittlerweile von jedem Motivations-Coach dieser Welt stammen könnte, dürften sich Salzburgs Grüne derzeit wohl ganz besonders zu Herzen nehmen. Nach dem Pflegeskandal rund um das Senecura-Pflegeheim in der Landeshauptstadt und dem unaufgeregten Rücktritt des politisch zuständigen Grünen Landesrats und LHStv. Heinrich Schellhorn, wechselt Bürgerlisten-Stadträtin Martina Berthold (52) in die Landespolitik, wird Grünen-Chefin und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im April 2023. Ihre Funktion übernimmt wiederum Gemeinderätin Anna Schiester, die mit 33 Jahren ins Salzburger Stadtratskollegium wechselt und Baustadträtin wird.

Kennengelernt haben sich die beiden Frauen 2013, intensiv zusammengearbeitet dann erstmals während der Flüchtlingskrise 2015, als Schiester die Facebook-Initiative „Willkommen Flüchtlinge“ ins Leben rief, die sich binnen kürzester Zeit zur zentralen Informationsdrehscheibe für alle, die helfen wollten, entwickelte. Berthold war damals die zuständige Integrationslandesrätin.

Eine Frage, zwei Antworten

Wir haben die beiden Politikerinnen zu einem gemeinsamen Interview gebeten, das heute in einem kleinen Café in der Landeshauptstatt stattgefunden hat. Im Doppel-Interview antworten Berthold und Schiester jeweils auf die gleichen Fragen und teilen dabei ihre ganz individuellen Einsichten – und Aussichten.

SALZBURG24: Wie leicht oder schwer ist es gefallen, die künftige neue Funktion mit einem lauten Ja zu begrüßen?

Martina BERTHOLD: Es hat schon gebraucht. Ich habe viel nachgedacht, viel gegrübelt und dann auch mit einer Plus-Minus-Liste angefangen. Da waren die Minus am Anfang noch deutlich mehr als die Plus. Aber im Laufe der Gespräche und Überlegungen hat es sich dann einfach richtig angefühlt, diesen Schritt zu machen. Das hat insgesamt schon ein, zwei Wochen gedauert. Für mich wäre 2024 eigentlich die nächste Gemeinderatswahl gewesen – aber im Leben und vor allem im politischen Leben muss man immer mit Überraschungen rechnen und dann eben für sich selbst überlegen.

Anna SCHIESTER: Ich wollte eigentlich für den Landtag kandidieren, aber es hat sich sehr schnell abgezeichnet, dass, wenn Martina ins Land wechselt, wir nicht beide die Bürgerliste verlassen können. Und als es dann wirklich soweit war, war die Entscheidung auch für mich schnell klar.

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Kam der Schritt Ihre Vorgängers/Ihrer Vorgängerin wirklich überraschend?

BERTHOLD: Ja, für mich schon. Wir haben ihn (Anm., Landesrat Heinrich Schellhorn) im Juni mit über 90 Prozent als Spitzenkandidat gewählt. Dass sich die Dinge dann so entwickeln und eine solche Dynamik entwickeln, das war sehr überraschend. Es war auch überraschend, wie massiv diese Situationen im Pflegeheim war und wie schwierig die Aufarbeitung geworden ist.

SCHIESTER: Ich kenne Martina und ich weiß, dass sie immer für Herausforderungen gut ist und dass sie sehr viel Energie hat. Dass sie sich jetzt wieder in Richtung Land zuwendet, das kam dann für mich tatsächlich nicht ganz so überraschend. Denn sie ist eine, die verändern will.

Welche Tipps geben Sie ihrer zukünftigen Nachfolgerin?

BERTHOLD: Was ich bei Anna jetzt schon merke, ist das Verknüpfen von Erfahrungen und eigenen Netzwerken mit der Ressortarbeit. Das ist etwas ganz Wesentliches. Gerade das Bauressort ist sehr vielfältig und hier kann man verschiedene Themen wie etwa Klimaschutz oder Soziales mithineinnehmen.

SCHIESTER: Im Sozialbereich in der Stadt ist viel zu tun. Da geht es um die Pflege genauso, wie um Kinder und Jugendliche. Wir müssen auch auf die Generation schauen, die unter schweren Bedingungen wie Klimakrise, Energiekrise, Krieg und einem sich verändernden Arbeitsmarkt aufwachsen. Da werden wir genau hinschauen, gute Projekte auf die Beine stellen und die Finanzierung derer zusammenbringen müssen. Dementsprechend wünsche ich meiner Nachfolgerin oder meinem Nachfolger – es ist ja noch nicht geklärt, wer das machen wird – hier ganz viel Weitblick.

Die ÖVP ist starker Regierungspartner und legt in vielen Bereichen die Marschrichtung fest. Welche Strategien muss man sich aneignen, um gehört zu werden?

BERTHOLD: Die politische Arbeit in der Stadt ist durch das Proporzsystem anders als auf Landesebene. Der Bürgermeister sucht sich seine Mehrheiten, um Beschlüsse durchzubekommen. Also geht es darum zu werben, zu argumentieren, beharrlich zu sein. Es gibt Themen, bei denen sind wir mit dem Bürgermeister sehr schnell einer Meinung, etwa was den Bereich der Kulturpolitik betrifft. Aber natürlich ist es Realität, dass die ÖVP durch ihre Konstellation eine sehr große Macht in der Stadt hat.

Die Herausforderung beim Land ist, dass sich die Koalitionsparteien zu Beginn auf ein Arbeitsprogramm einigen. In der Detailarbeit geht es dann darum, Kompromisse zu finden. Auch hier heißt es beharrlich bleiben und Ausdauer zu beweisen. Und bei Themen, die für uns absolut nicht vertretbar sind, dann auch Kante zu zeigen.

SCHIESTER: Tatsächlich fallen die meisten Beschlüsse einstimmig. Politik wirkt oft sehr konfliktbehaftet, aber wenn man sich das im Detail ansieht, weiß man, dass im Sozialausschuss 90 Prozent der Beschlüsse einstimmig sind. Ich glaube, dass sowohl die ÖVP und wir als Bürgerliste, das Beste für die Menschen in der Stadt im Blick haben, nur haben wir oft unterschiedliche Ansätze. Und dass es hier zu Reiberein kommt, das ist ganz normal und auch gut so. Ich habe im Gemeinderat immer versucht, verbindend zu wirken und das werde ich auch als Stadträtin weiter tun.

Wo steht Salzburg in zehn Jahren ohne grüne Beteiligung?

BERTHOLD: Großprojekte werden durchgezogen, ohne dass es ein behutsames Abwägen der verschiedenen Interessen gibt. Naturschutz, Umweltschutz, Klimaschutz und die Bedürfnisse der Menschen geraten in den Hintergrund und es werden vielleicht Unternehmensinteressen mehr bedient. Das heißt, im Bereich der erneuerbaren Energien wird es noch langsamer, im Bereich der Energiepolitik werden Großprojekte eher lasch behandelt und nicht wirklich vorangetrieben, wie etwa die Dekarbonisierung, das Raus aus den fossilen Energien der Salzburg AG. Und im Bereich des Sozialen sind die Themen, die Weiterentwicklungen im Kinder- und Jugendhilfebereich, oder in der sozialen Absicherung wieder zweite Priorität. Insgesamt geht dem Land einfach ein Teil der Vielfalt ab.

SCHIESTER: Man kann die Zukunft nicht ohne die Vergangenheit denken. Ich glaube, die Bürgerliste hat für Salzburg schon sehr viel erreicht. Es gäbe keine Grünlanddeklaration, es gäbe in naher Zukunft eine erweiterte Mönchsberggarage, es gäbe viel weniger Radwege und viel weniger Infrastruktur für Fußgänger:innen und Radfahrer:innen. Mit Blick auf die Vergangenheit würde eben genau das fehlen.

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Anna Schiester im Interview mit SALZBURG24-Chefredakteurin Nicole Schuchter.

Wo steht Salzburg in zehn Jahren mit grüner Beteiligung?

BERTHOLD: Die große Aufgabe für mich ist, die Energiewende zu schaffen und hier stärker voranzugehen. Und auch das Pflegethema wird zu managen sein. Ich maße mir nicht an, das lösen zu können, denn das ist etwas, was sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hat. Alle gemeinsam, nämlich Stadt, Land und die Träger müssen hier einen Drive entwickeln. Und im Kunst- und Kulturbereich wird die Vielfalt weiter ausgebaut. So werden nicht nur die Salzburger Festspiele, die für Salzburg wichtig sind, im Fokus stehen, sondern auch viele kleine Institutionen in den Regionen. Auch die Volkskultur mit einem modernen zukunftsträchtigen Ansatz wird unterstützt. Und natürlich: Es gibt mehr Radwege und wir haben einen gut ausgebauten öffentlichen Verkehr. Doch das alles ist immer ein Miteinander. Und auch in der ÖVP gibt es Bestrebungen, die sehr zukunftsorientiert und sehr grün in der Verkehrspolitik sind.

SCHIESTER: Die Salzburger Innenstadt ist autofrei. Denn egal wohin man schaut, wir sehen klar, dass es nicht nur den Menschen gut tut, sondern dadurch auch die Wirtschaft beflügelt wird, weil die Leute mehr flanieren und einkaufen. Salzburg wird bis in zehn Jahren den Titel „Fahrradhauptstadt von Österreich“ verdienen. Da sind wir schon jetzt auf einem sehr guten Weg, aber es geht noch mehr. Und man muss die Alternativen zum Individualverkehr so attraktiv machen, dass sie die Menschen auch gerne annehmen. Gleichzeitig werden wir eine klimagerechte Stadt haben, wir werden ganz viele Bäume haben, begrünte Plätze, wo sich die Menschen wohlfühlen und sich aufhalten können, ohne etwas konsumieren zu müssen.

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Was darf politisch in Salzburg niemals passieren?

BERTHOLD: Eine Politik, die nationalistische Ideale und Ziele als ihre Vision hat. Das ist etwas, was mich schon bewegt und beschäftigt, wenn ich mir manche Aussagen in Österreich anhöre. Wir tragen als Politik die Verantwortung, die Vielfalt des Lebens zu ermöglichen. Und was auch niemals passieren darf ist, die Zukunft aus den Augen zu verlieren. Das sehen wir jetzt teilweise schon bei politischen Entscheidungen, die getroffen werden, ohne auf die Zukunft der Menschen zu achten, ohne auf die Lebensgrundlage der jungen Menschen zu achten.

SCHIESTER: Was es nie geben darf, ist, dass eine Politik passiert, die Menschen gegeneinander ausspielt, die Menschen ausgrenzt. Es darf auch nie passieren, dass wir zurück in die Vergangenheit gehen. Alle Menschen dieser Stadt haben eine gute Zukunft verdient. Auch das Thema Klimaschutz in unserer Stadt nicht zu leben, wäre fatal. Nichts gegen die vielen Betonflächen zu tun, wäre schädlich für die Stadt selbst und die Menschen, die hier wohnen. Wenn wir jetzt politisch nicht an zukünftigen Generationen denken, an die Menschen, die noch gar nicht auf der Welt sind, dann machen wir einen Fehler.

Warum geht man in die Politik und warum tut man sich das an?

BERTHOLD: Ich bin in der Politik, weil ich ein Mensch bin, der etwas gestalten und verändern möchte. Schon bei meinen Anfängen im Frauenbüro des Landes war es meine Motivation für eine gleichberechtigte Gesellschaft einzutreten. Wenn mich jemand fragt, ob mir die Arbeit Freude macht, dann kann ich nicht wirklich eine Antwort darauf geben. Denn das sind für mich nicht die Dimensionen, um die es mir primär geht. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass ein Politiker, eine Politikerin eben nicht alles aushalten muss. Wir sind natürlich Projektionsfläche, aber wir sind nicht der Mistkübel der Nation und es gibt auch Situationen, in denen es wichtig ist, sich zu schützen oder auch vielleicht einen Schritt zurückzugehen, um dann wieder einen guten Job machen zu können.

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SCHIESTER: Ich möchte etwas bewegen, das ist mein wichtigster Antreiber. Ich möchte versuchen, Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein gutes Leben für die Menschen in Salzburg ermöglichen. Und ich weiß, ich habe die Energie und die Kraft dazu. Ich komme nicht aus einer klassischen Politikerfamilie oder einer Akademikerfamilie. Mir wurden im Leben Chancen gegeben und das möchte ich auch zurückgeben.

Schiesters Wahl zur Stadträtin dürfte bei der Gemeinderatssitzung am 2. November erfolgen. Die Personalrochade der Grünen, die Berthold zur Landeshauptmannstellvertreterin, Landeschefin und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl machen wird, muss noch in der Landesversammlung abgesegnet werden. Diese soll am 29. Oktober staffinden.

(Quelle: salzburg24)

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