Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Montag die Regionen Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine als unabhängige "Volksrepubliken" anerkannt und die Entsendung der Tuppen angeordnet. Bei einer TV-Ansprache gestern Abend hat der Kremlchef außerdem die Staatlichkeit der Ukraine als Ganzes infrage gestellt. Putin bezeichnete die Ukraine am Montag als einen durch Russland unter dem kommunistischen Revolutionsführer Lenin geschaffenen Staat. Die Denkmäler Lenins seien dort zerstört worden als Zeichen der "Dekommunisierung", so Putin mit Blick auf die Abschaffung der Überreste des Kommunismus. Zudem bezichtigte Putin Kiew, Atomwaffen bauen zu wollen.
SALZBURG24: Herr Heinisch, was passiert aktuell in der Ukraine?
REINHARD HEINISCH: Vor einigen Jahren haben sich einige Provinzen in der Ostukraine für unabhängig erklärt, diese Provinzen wurden aber von niemandem als unabhängig anerkannt und seitdem herrscht dort ein Schwebezustand. Die ukrainische Regierung hatte dort keine Macht mehr, es kam zu Gefechten und dann ist der Konflikt eingefroren. Das, was gestern passiert ist, ist, dass Putin diese Provinzen zu russischem Territorium gemacht und diesen Teil der Ukraine annektiert hat – und das, obwohl Russland 1994 die Souveränität und Integrität der Grenzen vertraglich garantiert hatte.
Dass ein Land ein Nachbarland überfällt und Territorien annektiert, hatten wir in der EU zum letzten Mal im Zweiten Weltkrieg.
Wir erleben einen klaren Bruch des Völkerrechts. Warum macht Putin das?
Letztlich wird das nur Putin selbst wissen. Experten gehen davon aus, dass Putin einerseits die Geschichte etwas zurückdrehen möchte. Er sieht den Westen als überbevorteilt, zu nahe an seinem Land. Russland geht es um Einfluss und Macht. Und das ist eine Machtdemonstration. Man will in jenen Gebieten, in denen man früher Einfluss hatte, wieder die zentrale Macht sein.
Wie weit Russland diesen Machtanspruch in Richtung Westen ausdehnen wird, das wissen wir derzeit nicht. Ist Putin mit dem Osten der Ukraine zufrieden oder will er noch mehrere Gebiete annektieren? Geht es darum, die Ukraine zu teilen, sind andere Staaten im Osten ebenfalls bedroht? Das sind derzeit offene Fragen. Deshalb ist das alles auch so gefährlich.
Gefährlich – weil es zum Krieg kommen kann?
Es kommt darauf an, wie die Ukraine jetzt reagiert. Das kann man im Moment noch nicht sagen. Man darf aber nicht vergessen, dass das, was jetzt in der Ukraine passiert auch Nachahmungswirkung in anderen Ländern hat. Nehmen wir Bosnien als Beispiel. Auch Bosnien ist ein Land, in dem ethnische Gruppen schauen, ob sie nicht vielleicht doch besser in einem Nachbarland aufgehoben wären. Ethnische Konflikte, die nach dem Kalten Krieg eingefroren wurden, begehren jetzt wieder auf. Die ganze Welt – von China bis Bosnien – schaut jetzt genau, wie Russland das macht und wie die Europäer reagieren werden.
Wie wahrscheinlich ist eine militärische Antwort?
Die NATO hat keinen Anlassfall und wird derzeit definitiv nicht militärisch antworten. Außerdem kann die NATO auch nur einem anderen NATO-Land, das angegriffen wird, zur Hilfe kommen. Die Ukraine ist keines. Und daher gibt es keine Handhabe. Sollte Russland im Baltikum oder in Polen einmarschieren oder Bulgarien bedrohen, dann wäre das eine andere Qualität.
Werden die Sanktionen des Westens tatsächlich so ausfallen, wie angekündigt? Heute erlebt man doch eine Art Schockstarre.
Die Frage wird sein, ob es die wirklich schweren Sanktionen gegen Russland geben wird. Russlandkritische Länder und die USA werden sich für harte Sanktionen einsetzen, während sich andere Länder wie Deutschland und Österreich, die von Russland abhängig sind und traditionell immer eine russlandfreundliche Politik gemacht haben, für milde Reaktionen aussprechen werden. Daher ist es am wahrscheinlichsten, dass nicht die ganz strengen Sanktionen kommen werden, sondern eine Mischform. Letztlich aber rechnet Putin mit Sanktionen und wird die Wirkung dieser konterkarieren.
Warum betrifft uns die Krise auch in Österreich?
Weil Kriege jedes Land in der Nähe direkt oder indirekt bedrohen. Man weiß nicht, wo Putin den Schlussstrich zieht, wie weit er vordringt, wie die EU und der Westen auf all das reagieren. Weil es zu Flüchtlingsströmen kommt, weil sich die Krise negativ auf die Wirtschaft auswirken wird und weil sich die Energie noch mehr verteuert – sie kommt aus Russland und führt großteils durch die Ukraine. Und weil wir jetzt nach Corona nun die nächste große Krise erleben.
Kann man das jetzt schon sagen, dass wir nach Corona die nächste große Krise erleben?
Das, was jetzt passiert ist, ist unumkehrbar. Und die Ukraine kann nicht einfach akzeptieren, dass ein Teil ihres Territoriums annektiert wird. Der Konflikt zeigt, dass Russland eine unberechenbare Macht im Osten ist, die die EU bedroht.
Für die Macht Putins ist die EU eine Bedrohung. Das sehen wir auch daran, dass wenn die Bevölkerung im Osten freie Wahl hat, drängt sie in den Westen. Auch in Russland selbst leidet die Bevölkerung zunehmend unter dem autoritären System. Und die Existenz der EU – sofern man diese auch kritisieren mag – ist ein Hoffnungsanker für viele Menschen im Osten. Deswegen ist die EU für Putin eine ideologische Bedrohung.
Bislang konnte man das weitgehend ignorieren. Russland war weit weg und irgendwie konnte man schon mit Putin. Doch jetzt haben wir in Europa die Situation, dass neben uns eine hochgerüstete Macht mit Machtambitionen ist, die sich selbst bedroht fühlt. Das ist weder ein guter, noch stabiler Dauerzustand.
Gibt es denn überhaupt Chancen für ein Ende des Konflikts?
Die Chancen wären aktuell nur mehr, dass die Ukraine bereit wäre für einen Deal. Doch wie zu Beginn schon gesagt – wie die Ukraine reagiert, kann man im Moment noch nicht sagen.
Herr Heinisch, vielen Dank für das Gespräch.
(Quelle: salzburg24)