Überraschend ebnete das Parlament am Abend den Weg für eine Freilassung der seit rund zweieinhalb Jahren inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko. Die Oberste Rada in Kiew stimmte mit großer Mehrheit für ein Gesetz, das die Vorwürfe des Amtsmissbrauchs gegen die Ex-Regierungschefin nicht mehr als Straftaten wertet. Timoschenko war Anführerin der demokratischen Orangenen Revolution von 2004, Janukowitsch ihr langjähriger Erzfeind.
Zudem votierten die Parlamentarier ohne Gegenstimmen für eine Rückkehr zur Verfassung von 2004. Damit wird die Macht des Präsidenten deutlich beschnitten und das Parlament gestärkt. Janukowitsch muss beide Gesetze noch unterzeichnen, damit sie in Kraft treten.
Die Oberste Rada setzte darüber hinaus den umstrittenen Innenminister Witali Sachartschenko ab. Die Opposition macht den 51-Jährigen für brutale Einsätze der Polizei gegen friedliche Demonstranten verantwortlich. Allein am Donnerstag hatten unbekannte Scharfschützen Dutzende Regierungsgegner erschossen.
Trotz der Beschlüsse ist allerdings offen, ob das Land nach der Eskalation der Gewalt mit mindestens 77 Toten nun zur Ruhe kommt. Eine wichtige Radikalengruppe beharrt auf einem sofortigen Abgang Janukowitschs und kündigte weiteren Widerstand an.
Nach dem von den Außenministern aus Deutschland, Frankreich und Polen ausgehandelten Friedensplan soll nun innerhalb von zehn Tagen eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden, unter Einschluss der Opposition. Gegen Verantwortliche für die Gewalteskalation soll zudem ermittelt werden - unter Aufsicht der Regierungsbehörden, der Opposition und des Europarats. Das Parlament beschloss zugleich die Freilassung aller Demonstranten, die bei den gewaltsamen Protesten der vergangenen Tage festgenommen worden waren.
Bis September soll laut dem Abkommen eine grundlegende Verfassungsreform erarbeitet werden. Ziel ist die weitere Stärkung von Regierung und Parlament auf Kosten des Staatschefs - auch dies eine Kernforderung der Opposition.
Schon jetzt scheint Janukowitschs Machtbasis zu bröckeln. Ihm kommen nach den Zugeständnissen an die Opposition immer mehr Abgeordnete seines Lagers abhanden. Schon 24 Politiker der regierenden Partei der Regionen verließen die Fraktion, wie Vize-Parlamentschef Ruslan Koschulinski mitteilte. Sie hatte zuletzt 205 von 450 Sitzen.
Möglich wurde das Abkommen, nachdem eine EU-Delegation sowie der russische Vermittler Wladimir Lukin die ganze Nacht hindurch mit Janukowitsch und Oppositionsführern verhandelt hatten. Als die Vereinbarung stand, holten der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein polnischer Kollege Radoslaw Sikorski die Zustimmung des sogenannten Maidan-Rates ein. Dem Gremium gehören verschiedene Gruppen von Regierungsgegnern an, die seit Wochen am Unabhängigkeitsplatz (Maidan) im Kiewer Stadtzentrum demonstrierten, darunter auch Radikale und Gewaltbereite.
Der Kompromiss wurde international durchwegs positiv aufgenommen. Gleichzeitig wurde aber betont, dass die Zukunft des Landes an der Umsetzung des Mehrstufenplans liege. "Die Umsetzung ist der Schlüssel und wird sehr schwierig werden", sagte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Ähnlich äußerte sich UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der wie die USA und London eine "vollständige und schnellstmögliche Umsetzung" des Übergangsabkommens forderte. US-Präsident Barack Obama wollte diesbezüglich noch am Freitag mit seinem russischem Amtskollegen, Wladimir Putin, telefonieren.
Auch Russland begrüßte die Vereinbarung von Kiew. Lukin habe das Abkommen zwar nicht unterzeichnet, erklärte das russische Außenministerium am Freitag. Dies bedeute aber nicht, dass Russland nicht an einem Kompromiss interessiert sei. Zudem forderte Moskau die EU zur Verurteilung von "radikalen Kräften" auf, die für den Gewaltausbruch und die Todesopfer in ihrem Nachbarland verantwortlich seien.
Ob diese Entwicklung Auswirkungen auf die von der EU beschlossenen Sanktionen haben wird, ist noch unklar. Die EU hatte am Donnerstag angekündigt, unter anderem die Vermögenswerte von Personen, die für die Gewalt in der Ukraine verantwortlich gemacht werden, einzufrieren. Vor diesem Hintergrund warnte die österreichische Finanzmarktaufsicht (FMA) am Freitag, bis zur Klärung des Sachverhalts jede weitere Abwicklung von Transaktionen in Bezug auf "politisch exponierte Personen aus der Ukraine" zu unterlassen. Es bestehe erhöhtes Risiko der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.
Aufgebrachte Demonstranten in Kiew lehnten die Einigung der Opposition mit der Regierung unterdessen ab und forderten ultimativ den Rücktritt von Präsident Janukowitsch innerhalb von Stunden. Bei einer Kundgebung mit drei Oppositionsführern am Freitagabend auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt übernahm ein Regierungsgegner in Kampfmontur das Mikrofon und erklärte, bis 10.00 Uhr müsse Janukowitsch zurückgetreten sein. Andernfalls "greifen wir mit Waffen an", sagte der Mann.
Die drei Oppositionsführer - darunter der Ex-Boxer Vitali Klitschko - wurden für das Abkommen mit der Regierung scharf kritisiert. Als Klitschko die Entwicklungen des Tages als "sehr wichtig" beschrieb, brach die Menge in ein Pfeifkonzert aus. Er entschuldigte sich später dafür, Janukowitsch die Hand gegeben zu haben.
Die ukrainische Opposition hat nur begrenzten Einfluss über die Demonstranten, die seit Monaten gegen die Regierung protestieren. Bei Straßenschlachten auf dem Maidan sind in den vergangen Tagen Dutzende Menschen getötet worden. Die Übereinkunft mit der Regierung war unter Vermittlung der Außenminister von drei EU-Staaten zustande kommen, darunter Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier.
(Quelle: salzburg24)