Viele seiner Fans schwenkten die rote Halbmond-Flagge und riefen vor Erdogans Rede: "Die Türkei fühlt sich mit dir geehrt". Der türkische Premier wollte - ungeachtet der massiven Kritik zahlreicher Politiker - wenige Wochen vor der türkischen Präsidentschaftswahl eine Rede vor seinen Landsleuten halten. Es gilt als wahrscheinlich, dass der 60-Jährige im August für das Präsidentenamt kandidieren wird. Dabei können erstmals auch fast 1,5 Millionen Türken in Deutschland ihre Stimme abgeben.
Erdogan warf Kritikern in der Türkei und im Ausland vor, seinem Land schaden zu wollen. Es gebe Kräfte, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollten, so Erdogan am Samstag vor seinen Anhängern. "Denen sage ich: Die Türkei ist nicht mehr die alte Türkei." Erdogan wies die Kritik an Einschränkungen der Bürgerrechte in der Türkei zurück.
Gegner seiner Regierung im Innern wie im Ausland wiederholten dieselben "Lügen und Verleumdungen", sagte Erdogan. Auch die Kritik am Umgang der türkischen Polizei mit Demonstrationen sei verfehlt, denn es handle sich um "Terrorakte", sagte Erdogan. Polizisten zu töten und Dokumente zu fälschen, sei keine Pressefreiheit. Er warf den europäischen Ländern vor, zu den kürzlichen Todesurteilen gegen Mitglieder der Muslimbruderschaft in Ägypten geschwiegen zu haben.
In Köln herrschte der Ausnahmezustand. Gegner und Anhänger Erdogans reisten zu Tausenden auch aus europäischen Nachbarländern wie Österreich, Frankreich, Belgien, oder den Niederlanden an. Die Polizei war mit Hundertschaften vertreten, um Zusammenstöße zwischen beiden Lagern zu verhindern. Bis zum späten Nachmittag blieben die Proteste friedlich, wie die Polizei mitteilte. Allerdings war die Stimmung aufgeheizt.
Demonstranten forderten auf Plakaten: "Stoppt den Diktator Erdogan." Manche skandierten "Mörder" und "Faschist". Andere machten auf Transparenten deutlich: "Erdogan, du bist nicht willkommen." Die veranstaltende Alevitische Gemeinde sprach von mehr als 50.000 Teilnehmern. Redner der Gemeinde forderten Demokratie und Pluralität in der Türkei. Viele warfen dem türkischen Regierungschef vor, er schränke Menschenrechte ein, missachte Minderheitsrechte und beschneide die Meinungsfreiheit.
Dass sich Erdogan kurz nach dem schweren Grubenunglück von Soma mit 301 Toten Zeit für einen Deutschland-Besuch nehme, sei unverzeihlich, meinten viele. "Der Umgang mit der Katastrophe ist schrecklich. Die Menschen trauern, und Erdogan macht Propaganda in Köln", kritisierte Taylan Can, einer der Demonstranten.
Offiziell sollte Erdogan zum zehnjährigen Bestehen der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) sprechen, die als verlängerter Arm seiner Partei AKP gilt. Viele deutsche Politiker hatten eine Absage des Erdogan-Redeauftritts verlangt, der so kurz nach der Katastrophe unsensibel, falsch und empörend sei.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel forderte Erdogan mehrfach zu Zurückhaltung auf. Martin Schulz, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten (SPD) für die Europawahl, sagte in Frankfurt: "Ich habe das Gefühl, er ist auf der Flucht vor Problemen in der Türkei."
Unterdessen berichteten türkische Medien, dass Erdogans Berater Yusuf Yerkel, der nach dem Bergwerksunglück bei Tritten auf einen am Boden liegenden Demonstranten gefilmt worden war, entlassen wurde. In der Türkei und im Ausland hatten die Bilder Entrüstung ausgelöst und die Kritik am Verhalten der Regierung verschärft.
(Quelle: salzburg24)