Lange Zeit wurden hierzulande Lieder durch direkten Austausch weitergegeben. Im 19. Jahrhundert etwa, als das Reisen ebenso beschwerlich war wie die Kommunikation über weite Distanzen, entstanden viele Melodien und Texte in unterschiedlichen Varianten durch mündliche Überlieferung und handschriftliche Dokumentation. Ähnlich wie die Dialekte bildeten sich auch bei Liedern beispielsweise schon im Nachbartal andere Versionen heraus.
Maßgeblich beteiligt an der Verbreitung dieser Lieder waren die sogenannten Kirchensänger. Dabei handelte es sich zumeist um eine Gruppe aus vier bis fünf Männern, welche in der Zeit vor den Kirchenreformen von Maria Theresia die musikalische Ausgestaltung in den Dorfkirchen überhatte. "Man hat damals oft auch unterschiedliche Texte auf die gleiche Melodie gesungen. Wir beim Salzburger Volksliedwerk graben da oft ein bisschen nach und schauen, ob es zu bekannten Liedern etwa vielleicht auch andere Melodien gibt", erzählt Wolfgang Dreier-Andres, Archivleiter beim Salzburger Volksliedwerk (SVLW), im Gespräch mit SALZBURG24.
Dabei ergeben sich mitunter geographische Besonderheiten. Andres-Dreier verweist hier etwa auf das Marienlied "Maria, Maria, hell leuchtender Stern", das in Salzburg in der Kärntner Fassung aus Heiligenblut gesungen wurde. "Wir haben es dann in einer Liedersammlung aus dem Pinzgau gefunden – mit einer anderen Melodie und einem anderen Text. Es handelt sich dabei um eine sogenannte Variante."
Varianten am Beispiel von "Still, still, still"
Mehrere unterschiedliche Varianten gibt es bei dem in Salzburg bekannten Weihnachtslied "Still, still, still". Die bekannteste Version ist auf die Salzburger Volksliedersammlung von 1865 zurückzuführen. Elisabeth Radauer vom Volksliedwerk hat die verschiedenen Varianten eingesungen und eingespielt – beginnend mit der vielen wohl bekanntesten, danach folgt eine Version aus dem Lungau von 1899 und eine Variante aus dem Jahr 1884 aus der Sammlung von August Hartmann:
Unterschiedliche Varianten von "Still, still, still"
Mit den Kirchenreformen von Maria Theresia kamen zur Mitte des 18. Jahrhunderts erste Gesangsbücher auf. Zudem wurde in den Kirchen auf Deutsch und nicht mehr auf Latein gesungen. In den abgelegenen Gegenden im Innergebirg hielt sich die Tradition der zuvor genannten Kirchensänger aber noch länger. "Die hatten hier ein ganz eigenes Repertoire an Liedern. Etwa 'Lippei sollst gschiwnd aufstehn' oder ein Hirtenlied aus Abtenau – 'Kommet ihr Hirten verlasset die Weid'."
Volksliedwerk findet Lied zu "Andachtsjodler"
Auch auf eine andere Form des sogenannten "Andachtsjodlers", der von vielen Adventsingen-Gruppen zur Weihnachtszeit zelebriert wird, ist das Salzburger Volksliedwerk gestoßen. "Der Andachtsjodler ist eigentlich immer auf ein Lied gesungen worden. Aber das hat niemand mehr gekannt", so Andres-Dreier. In einer Zeitschrift aus dem Jahr 1921 wurde das tatsächliche Lied entdeckt. Darin wird zuvor die Verkündung von Christi Geburt an die Hirten beschrieben, an der Krippe wurde dann der Andachtsjodler angestimmt, erzählt der Musikwissenschafter. Das SVLW hat diese ursprüngliche Form neu interpretiert:
Liedersammlungen führen zu Angleichungen
Die erste gedruckte Salzburger Volksliedersammlung von Maria Vinzenz Süß stammt aus dem Jahr 1865. "Darin befinden sich an die tausend Vierzeiler (etwa Gstanzl, Anm.), Lieder sind es etwa hundert. Dazu gibt es viele Texte aber nur wenige Melodien. Viele Texte sind also auf die gleiche Melodie gesungen worden", führt Andres-Dreier aus. Daraufhin kamen immer mehr Sammlungen auf, etwa eine aus dem bayerischen Raum oder jene von August Hartmann aus dem Jahr 1884. "Wenn man diese vergleicht, sieht man, dass es sehr viele Varianten gibt. Die Verbreitung dieser Sammlungen hat dann dazu geführt, dass sich die Lieder immer mehr angeglichen haben."
Nun wurde erstmals ein EU-Songbook veröffentlicht. Darin zu finden ist auch "Stille Nacht, Heilige Nacht" – allerdings in der sogenannten Rezeptionsfassung, wie Dreier-Andres erklärt. "Diese Fassung stammt von einem Lehrer aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er wollte eine einfachere Variante als jene, die von den Zillertaler Nationalsängern in Europa und Amerika aufgeführt wurde. "Durch den Druck bekam die Variante des Lehrers aber eine derartige Strahlkraft, dass sie sogar ihren Weg in dieses EU-Songbook fand." Als virtuose Sänger hatten die allerdings bereits eine andere Version als die ursprüngliche von Gruber und Mohr, die nur in Handschrift verbreitet wurde.
Salzburger:innen singen nach wie vor zu Weihnachten
In Salzburg werde zur Weihnachtszeit in den Familien nach wie vor viel gesungen, meint der Experte. "Wir veranstalten jedes Jahr ein vorweihnachtliches Singen – da kommen immer Familien mit Kindern." Auch erhalte das SVLW immer wieder spezifische Anfragen zu Texten und Melodien. Grundsätzlich seien es zwischen 15 und 20 wöchentlich, in der Vorweihnachtszeit noch mehr.
Die Weihnachtszeit bietet sich also auch dazu an, sich mit der Herkunft und Geschichte der jeweiligen Lieder auseinanderzusetzen oder gänzlich neue kennenzulernen.
(Quelle: salzburg24)