Ein breites Bündnis aus Politikern, Experten und Unternehmern stellt sich gegen den Mainstream der Neutralitätsdebatte. In einem offenen Brief kritisiert es die "Illusion (...), Österreich könne so bleiben wie es ist, sich heraushalten, und mit etwas mehr Geld für das Bundesheer das Auslangen finden". Unterzeichnet haben etwa Europapolitiker Othmar Karas (ÖVP), Ex-FPÖ-Verteidigungsminister Herbert Scheibner, der SPÖ-nahe Berater Rudi Fußi und Bankmanager Andreas Treichl.
"Debatte ohne Scheuklappen" zu Neutralität
"Österreich verdient die Wahrheit: Der jetzige Zustand ist unhaltbar und gefährlich. Wir bestehen deswegen weiterhin auf unseren Minimalforderungen: eine ernsthafte, gesamtstaatliche, ergebnisoffene Diskussion über die außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Zukunft Österreichs sowie die Verabschiedung einer neuen Sicherheitsdoktrin, die den geänderten Umständen Rechnung trägt", heißt es in Hinblick auf einen ersten offenen Brief im vergangenen Frühjahr. In diesem hatten sie eine "Debatte ohne Scheuklappen" über die Neutralität gefordert, "geleitet durch eine vom Bundespräsidenten eingesetzte unabhängige Expertengruppe" und unter breiter Beteiligung der Bevölkerung. Dies sollte dann zum Beschluss einer neuen österreichischen Sicherheitsdoktrin führen.
Prominente Unterstützer befürworten Diskussionen
Neben zahlreichen Spitzendiplomatinnen und Generälen finden sich auf der Liste der Unterstützer etwa die Schriftsteller Robert Menasse und Doron Rabinovici, die frühere NEOS-Abgeordnete und Bundespräsidentschaftskandidatin Irmgard Griss, Ex-Nationalratspräsident Heinrich Neisser (ÖVP), Ex-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager (FPÖ, heute NEOS), AMS-Chef Johannes Kopf, der Direktor der Diplomatischen Akademie Emil Brix, Ex-"Presse"-Chefredakteur Rainer Nowak, Journalist Robert Misik, Buchautor Ali Mahlodji und die frühere Strategieberaterin von Ex-Kanzler Sebastian Kurz, Antonella Mei-Pochtler.
Österreich "Tut als wäre die Welt stehengeblieben"
Die Unterzeichner beklagen, dass ihre Forderungen in den vergangenen Monaten von keinem der Adressaten (Bundespräsident, Bundesregierung, Nationalrat und Bevölkerung) ernsthaft in Betracht gezogen worden seien. Obwohl mittlerweile die "bündnisfreien Freunde Schweden und Finnland" der NATO beitreten und die in der Vergangenheit gegenüber Russland ähnlich vorsichtigen Nachbarländer Deutschland und Tschechien Waffen in Milliardenwert in die Ukraine schicken, tue Österreich weiterhin so, "als wäre die Welt am 23. Februar 2022 stehengeblieben".
Bundesheer in Debatte angeprangert
Trotz Budgeterhöhung sei das Bundesheer weiterhin "unvorbereitet, die Heimat ernsthaft zu verteidigen und anderen EU-Staaten wie eigentlich versprochen beizustehen". "Unsere sicherheitspolitische Position wird international von den Einen belächelt, von den Anderen als rückgratlos wahrgenommen", heißt es in Hinblick auf die Neutralität, deren Abschaffung zwar nicht offen gefordert wird, die aber doch klar als "anachronistisch" eingestuft wird. An die Adresse der Spitzenpolitiker heißt es, diese sollten "diese unangenehmen Fragen endlich ernst (...) nehmen und vor die eigenen politischen Kalküle (...) setzen".
Kickl: "Neutralität ist Identitätsstiftend"
FPÖ-Chef Herbert Kickl stellte sich klar hinter die Neutralität, die er als "Identitätsmerkmal" und "Schutzschirm für Österreich" bezeichnete, "der nicht am Altar der EU- und NATO-hörigen Eliten geopfert werden darf". Kickl behauptete, dass der Initiative "überproportional viele Personen der ÖVP angehören". Diese würde "ihren Feldzug gegen unsere immerwährende Neutralität fortsetzen", so Kickl. Auch habe Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) in ihrer Reaktion auf die Initiative "kein klares Bekenntnis zur immerwährenden Neutralität über die Lippen" gebracht.
Edtstadler lehnt Diskussionen um Neutralität ab
Edtstadler hatte in ihrer Reaktion betont, dass der neutrale Status Österreichs in der Europäischen Union "anerkannt" sei und sich dieses bei Entscheidungen über Waffenlieferungen an die Ukraine weiterhin "konstruktiv enthalten" werde. "Wir sind uns alle einig, dass seit dem 24. Februar letzten Jahres nichts so ist, wie es vorher war", erklärte Edtstadler. Es sei "evident, dass nicht nur Österreich, sondern auch die Europäische Union ständig darüber nachdenkt, wie wir darauf reagieren", sagte sie am Dienstag in Brüssel. "Unzählige Staaten", darunter auch Österreich, hätten ihr Verteidigungsbudget erhöht, und auf EU-Ebene werde mit dem "Strategischen Kompass" - eine Art sicherheits- und verteidigungspolitische Doktrin - eine bessere Zusammenarbeit in diesem Bereich forciert. "Wir sind uns dessen schmerzlich bewusst, dass die Sicherheitsarchitektur Österreichs, aber auch Europas neu gedacht werden muss, und wir sind da auch nachhaltig dran."
Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) trat indes dem Vorwurf entgegen, dass man nach dem 24. Februar eine Sicherheitsdebatte verweigert habe. "Das Gegenteil ist der Fall", verwies sie in der "Tiroler Tageszeitung" (Dienstagsausgabe) auf die unmittelbar nach Kriegsausbruch gefassten Beschlüsse zur besseren Ausstattung des Bundesheeres. "Wir befassen uns laufend mit Sicherheitspolitik. Weil eines stimmt jedenfalls: Die Neutralität allein - auch nicht die militärische - ist kein Schutzschild", sagte sie. Zugleich bezeichnete sie die militärische Neutralität in der jetzigen Kriegssituation als "die absolut richtige Antwort" und "unabdingbar notwendig".
(Quelle: apa)